»Bitte«, wimmerte er auf Englisch. »Helfen Sie mir.«
Wagner hielt den Mann weiterhin aufrecht, während O’Connor seinen Arm abzubinden begann. Er fühlte eine schreckliche Ernüchterung, als er dem anderen in die Augen blickte.
Das war kein Spiel mehr.
Ausgespielt, dachte er. Und die Krawatte war auch zum Teufel. Armani, Einzelstück.
Game over.
Sie brachten den Verletzten zu Kuhn und Silberman, wo er sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken ließ. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen, kontrollierten Atemzügen. Es war offensichtlich, dass er unter Schock stand, dennoch schien er bestrebt, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Er lehnte es ab, sich zu setzen, bat aber um Wasser. Die Terroristin wies Wagner an, eine Flasche aus dem Computerraum zu holen, und der Mann trank wie ein Verdurstender. Allmählich wich das Glasige aus seinem Blick. Der Schock milderte die körperlichen Schmerzen, womöglich auch die der
Erkenntnis, was ihm widerfahren war.
Wagner versuchte, Mitleid mit ihm zu empfinden. Aber der Fundus ihrer Emotionen war den Bedarfsanforderungen entweder nicht gewachsen oder brachte sie schlicht durcheinander. Hätte man ihr die Situation a priori geschildert, wäre sie zu der unabdingbaren Überzeugung gelangt, keine Minute davon durchstehen zu können – jetzt ließ sie die schreckliche Verwundung des Mannes merkwürdig kalt. Eine Ahnung dämmerte in ihr empor, wie Soldaten empfinden mochten, die längere Zeit Bildern des Grauens und des Elends ausgeliefert waren. Natürliche Schutzmechanismen waren gut, solange sie sich nicht zu unüberwindbaren Traumata auftürmten, die der Schrecken ebenso wenig überwinden konnte wie die Seele.
Sie kniete neben Kuhn und strich ihm beruhigend übers Haar. Der Lektor schien in Katatonie verfallen zu sein. Während sich Silbermans Verletzung als oberflächlicher Streifschuss herausgestellt hatte, ging es Kuhn zusehends schlechter. Er schnappte nach Luft und hielt die Augen halb geschlossen, so dass nur das Weiße zum Vorschein kam. Wagner sah hoch zu O’Connor.
»Er muss in ein Krankenhaus«, sagte sie.
O’Connor schüttelte grimmig den Kopf. »Erst mal muss er überhaupt hier raus«, sagte er mit einem Blick auf die Terroristin. »Und das geht wohl nicht so einfach, habe ich Recht?«
Die Frau starrte an ihm vorbei auf den verwundeten Angreifer.
»Das wird er uns verraten«, sagte sie. Sie trat dicht an den Mann heran und drückte den Pistolenlauf gegen seine Schläfe. Er zuckte zurück. Seine Lippen bewegten sich.
»Bitte nicht.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. »Erschießen Sie mich nicht, bitte.«
Die Frau reagierte, als sei sie geohrfeigt worden. Sie prallte zurück und sah ihn ungläubig an.
»Du bist Amerikaner«, rief sie.
Er schwieg, aber sein Gesicht verzerrte sich nur noch mehr.
»Du bist Amerikaner«, wiederholte sie leise und eindringlich. In plötzlicher Wut packte sie seine Kehle und drückte ihn gegen die Wand. Er stöhnte auf und versuchte, sie abzuwehren. Sie schien vor Zorn förmlich in Flammen zu stehen. Die Waffe in ihrer Hand fuhr hoch über ihren Kopf, als wolle sie ihm damit den Schädel einschlagen. Für einen Moment ließ sie sich hinreißen, achtete nicht mehr auf die anderen, verlor die Kontrolle.
O’Connor sprang sie an.
Die Terroristin stolperte rückwärts, und er setzte nach, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte, fiel über Kuhns Füße und prallte hart auf den Rücken.
»Liam!«, schrie Wagner.
Mit einem Satz war sie auf den Beinen und stürzte zu ihm. Er machte Anstalten, sich auf die am Boden liegende Terroristin zu werfen. Wagner fiel ihm in den Arm und riss ihn zurück.
»Sie tötet dich!«, flehte sie. »Hör auf! Du hast keine Chance, sie erschießt dich, sie erschießt uns alle.«
O’Connor zitterte am ganzen Leib. Schwer atmend stand er über der Frau, die ihre Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Mullbinden um die geballte Faust, mit der er sie getroffen hatte, verfärbten sich an zwei Stellen rot.
»Na los«, keuchte er. »Mach schon. Warum legst du uns nicht einfach alle um, du Miststück? Wäre doch viel einfacher. Bumm, weg!«
»Ich warne Sie«, zischte die Terroristin.
»Du warnst mich? Wovor? Davor, dass ich sterben könnte? Davor muss mich keiner warnen, das weiß ich schon lange! Das Problem ist, dass du sterben wirst!«
»Zurück mit Ihnen.«
»Wenn du da rausgehst«, schrie O’Connor, »wirst du sterben! Ist es nicht so? Du bist mit deinem Latein am Ende, du wirst abkratzen!«
»Ich sagte, Sie sollen zurück an die Wand gehen!« Sie robbte über den Boden nach hinten, die Pistole starr von sich gestreckt. Dann kam sie mit plötzlichem Schwung auf die Beine. Ein Zucken ihrer Schulterblätter hatte genügt, um sie wieder in die Senkrechte zu katapultieren.
»Jana«, flüsterte Kuhn.
Alle Köpfe fuhren zu ihm herum.
Der Lektor hatte sich auf den Ellbogen gestützt. Sein angeketteter Arm stand in unnatürlichem Winkel ab. Er wirkte wie zerbrochen, aber sein Blick war klar. Die wässrigen Augen ruhten gelassen auf der Terroristin. Ohne ihre Körperspannung zu verlieren oder die Position zu verändern, erwiderte sie den Blick.
»Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben.« Er hustete und spuckte aus. In dem Speichel, der vor ihn hinfiel, waren Blutfäden zu sehen. »Du wolltest nicht hören. Es ist immer dasselbe mit euch Nationalisten, Patrioten, Traumtänzern. Du hast verloren, Jana. Warum fragst du den armen Kerl nicht, weswegen er überhaupt gekommen ist?«
»Das hatte ich vor«, sagte Jana zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Dein idiotischer Freund ist mir dazwischengekommen.«
»Lass den Mann, er ist Schriftsteller.« Kuhn gluckste. Offenbar hatte er in den Stunden seiner Gefangenschaft ein merkwürdig entspanntes Verhältnis zu der Terroristin entwickelt. »Er kann nicht anders als übertreiben. Sorry, Liam, das war prima, aber völlig unnötig. Sie hat gar nicht vor, uns zu töten. Es ist nicht ihr… Stil. Stimmt’s, Jana? Du glaubst immer noch an die Moral des Mordens, dein Verständnis von Gerechtigkeit ist guillotinesk. Prozessieren, verurteilen, töten, das von Rechts wegen verurteilte Opfer. Wie altmodisch. Du wirst ebenso enden wie Robbespierre, an deiner eigenen Gerechtigkeit.«
»Halt den Mund, Kuhn.«
»Jana, hör zu, das hat alles keinen Sinn hier, wir…« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du begreifst einfach nicht, was passiert. Wenn die Typen uns befreien wollten, in Ordnung, aber falls nicht… Ich meine, wir sind immer noch innerhalb des hermetischen Denkens, wir müssen den Gegebenheiten mehr Raum schaffen…«
Wagner sah langsam von Kuhn zu der Terroristin. Jana hatte sich etwas entspannt. Sie heftete ihren Blick auf den verstümmelten Killer.
»Rede endlich«, sagte sie.
»Ich weiß nichts«, stammelte der Mann. »Wirklich, ich…«
Jana feuerte.
Silberman warf sich zu Boden, O’Connor wich zurück. Der Mann schrie auf und schlug schützend die Arme über dem Kopf zusammen. Es sah schrecklich aus mit dem blutigen Stumpf. Wagner fühlte ihr Herz im Halse schlagen, dann sah sie, dass Jana vorbeigeschossen hatte.
»Wir sollten euch alle töten«, heulte der Killer. »Alle, ihr solltet sterben, das war der Auftrag, Sie, Gruschkow, Mahder, o Gott…«
»Mahder habe ich selbst erledigt«, sagte Jana. »Was noch?«
»Es war nicht meine Idee, nicht meine Idee! Wir sollten euch töten, und dann… dann .«
»Die Geiseln«, ergänzte Silberman tonlos.
Kuhn sah zu ihm hinüber und nickte matt.
»Ja, Aaron, guck mal an«, sagte er. »Prima Befreiungsaktion.«
»Wir sollten es mit euren Waffen machen, es sollte aussehen, als hättet ihr sie getötet, bevor wir kamen«, sprudelte der Mann atemlos hervor. »Das war der Plan, ich schwöre, das ist die Wahrheit!«
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