Ohne ein Geräusch betrat er die Halle, gerade rechtzeitig, um O’Connor zu dem angeketteten Lektor laufen zu sehen.
Er starrte auf den YAG. Der Pritschenwagen rollte langsam in die Mitte der Halle. Jemand bewegte sich seitlich daran vorbei.
Sein Blick suchte Jana.
Mit einem Satz war sie aus dem Schutz des YAG heraus und Auge in Auge mit dem dritten Agenten.
Er schoss, als habe er nur auf sie gewartet. Jana wirbelte zur Seite und kam zu Fall. Gleichzeitig feuerte der verletzte Agent am Boden auf sie. Mit aller Kraft stieß sie sich ab. Im Herumrollen drückte sie den Abzug durch, immer wieder, entleerte das Magazin. Die Projektile schossen dicht über dem Boden dahin und schlugen in Kopf,
Schultern und Oberkörper des Mannes, der herumgerissen wurde und endgültig still dalag.
Ihr verletzter Arm schmerzte höllisch, als sie hochkam. Ihre Hand fuhr nach hinten, wo die Walther PP in ihrem Gürtel steckte.
Der dritte Agent hatte auf sie angelegt.
Seine Augen glühten.
Gruschkow war hinter ihm und rammte ihm seine Faust zwischen die Schulterblätter. Der Agent taumelte. Die Waffe schlug auf den Boden und rutschte unter den YAG.
Gruschkows nächster Schlag streckte ihn zu Boden.
Der Agent sah seine Waffe auf der anderen Seite der Schiene liegen. Der Russe stand schreiend über ihm. Aus irgendeinem Grund, an dessen Natur er keinen Gedanken verschwendete, schoss Jana nicht auf ihn, sondern starrte wie paralysiert an Gruschkow vorbei.
Er würde keine zweite Chance mehr bekommen. Erst der Russe, dann die Frau. Blitzschnell rollte er sich auf die Seite, griff nach der Waffe und umfasste den Griff.
Das schwere, eiserne Rad des Pritschenwagens trennte ihm die Hand direkt am Gelenk ab, als rolle es durch Butter.
Gruschkow jubelte auf. Er riss die Arme hoch und mischte seinen Freudengesang in das markerschütternde Gebrüll des Mannes unter ihm.
»Nein!« schrie Jana.
Der Russe verstummte. Schrecken trat in seine Augen.
Er versuchte sich umzudrehen.
Das Krachen von Munition zerriss die Luft. Gruschkow wurde nach vorne geschleudert und fiel als blutiges Bündel auf den Körper des schreienden Agenten. Seine polierten Brillengläser zersplitterten.
Er spürte, wie das Leben ihn verließ, fühlte alles in sich erkalten. Die Gewissheit, sterben zu müssen, war schrecklich. Ihm war danach, etwas zu sagen, aber kein Laut kam von seinen Lippen. Seine Mundwinkel zuckten, und ein Ausdruck gelinden Erstaunens legte sich auf seine Züge.
»Nein«, flüsterte Jana.
Hinter Gruschkows Leiche wurde die Gestalt des vierten Agenten sichtbar.
»Jana«, sagte er lächelnd.
Sie starrte ihn an, fassungslos und voller Hass.
»Mirko.«
Kuhn atmete schwer. In seiner Brust rasselte es, als sei dort alles in Stücke gegangen.
»Aufhören«, flüsterte er mit geschlossenen Augen. »Aufhören!«
Im Gewitter der Schüsse hatte er unablässig gezuckt, als werde er selbst getroffen, aber O’Connor wusste es besser. Er lag halb neben, halb auf dem Lektor und schirmte ihn ab. Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen, als er von Kikas Versteck zurückgelaufen war. Vielleicht konnte er den hilflosen Lektor so vor Querschlägern bewahren. Gezielte Schüsse würden sie beide nicht überleben. O’Connor hatte nicht die mindeste Ahnung, wer in dem Inferno welche Absichten verfolgte, also hielt er die Arme um Kuhn geschlungen und zog die Schultern hoch, als könne das etwas gegen den Kugelhagel nützen.
»Ruhig«, sagte er. »Es ist ein Spiel, Franz. Alles nur ein Spiel.«
»Ein Scheißspiel«, keuchte Kuhn.
»Ja, ich weiß. Aber wir werden gewinnen. Wir werden gewinnen!«
Er war ein bisschen erstaunt über das Maß an Altruismus, das ihn veranlasste, sein Leben für diesen Mann zu riskieren. Seltsamerweise empfand er wenig Angst. Beinahe gelassen registrierte er, dass die Aussicht zu sterben eine neue, interessante Erfahrung verhieß, über die man trefflich würde plaudern können bei Tee und Gebäck oder einer Flasche gekühlten Champagners. Und selbst wenn er sterben müsste, jetzt und hier – wäre es nicht der würdige Abschluss eines ebenso sinnlich vollkommenen wie vollkommen sinnlosen Daseins, tragisch umflort von Laster, Genialität und Trunkenheit?
Seltsame Gedanken für einen Showdown.
Seine Grabredner würden ihm Großes unterstellen, die Kirchenwände widerhallen vom Stahl schöner Worte. Er habe das Licht domestizieren gelehrt und Menschen zu Millionen in fiktive Universen gelockt. Viel getrunken habe er auch, um das Profane aus seinem Geist zu spülen. Geringere als er selbst habe er trefflich beleidigt und auf die Plätze verwiesen. Er sei ganz allgemein ein begnadeter, genialer, gedankenloser, egoistischer, undisziplinierter und arroganter Scheißkerl gewesen.
Es war ein Spiel. So viel wirklicher als das Leben. Nur, dass er den Einsatz diesmal nicht erhöhen konnte.
Kuhn sah ihn an.
»Ich will hier nicht verrecken«, sagte er.
Wurden Prominente aufgebahrt? Vor aller Augen? Wie grauenhaft. Was sollte er anziehen? Sie würden die falsche Krawatte zum Anzug aussuchen, den Ton des Hemdes verfehlen. Alles würde hinten und vorne nicht stimmen. Er würde sich noch im Tode unsterblich blamieren.
»Nein«, flüsterte O’Connor. »Ich auch nicht.«
Auge in Auge, unfähig zum Handeln.
Keiner von ihnen konnte gewinnen, so wie sie da standen. Sie waren einander ebenbürtig, beide gleich gut, gleich schnell. Wer immer zuerst schoss, würde vom anderen getroffen werden. Sie würden beide sterben, versetzt um ein Minimum an Lebenszeit.
Es lohnte nicht.
Mirko sprang zurück hinter den YAG, gleichzeitig verschwand Jana auf der anderen Seite. Das tonnenschwere Gerät rollte gemächlich auf ihn zu. Mirko trat einen Schritt zurück, und der YAG kam mit dem Geräusch eines Gongschlags zum Stehen.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Lärm das Ding gemacht hatte. In der plötzlich eintretenden Stille war nur das unterdrückte Stöhnen des Agenten zu hören, der langsam auf das Loch zukroch, wo die Tür gewesen war, den blutigen Stumpf mit der anderen Hand umklammert. Er hatte es geschafft, Gruschkows Körper wegzustemmen. Mirko schenkte ihm keine Beachtung. Er stand vor der mächtigen Flanke des Lasers und versuchte, irgendein Geräusch auszumachen, das Janas Position verriet.
Aber Jana war wie er. Sie machte keine Geräusche. Er musste sich auf seine Intuition verlassen, und die besagte nur, dass sie rechts, links, oben oder unten auftauchen konnte.
Schnell ließ er sich zu Boden fallen und sprang sofort wieder auf. Der kurze Moment hatte gereicht, um unter dem Pritschenwagen hindurchzusehen. Janas Füße hätten dort irgendwo sein müssen, aber da war nichts. Augenblicklich begriff er, was sie vorhatte. Ohne Verzug feuerte er über die Kante des YAG hinweg, während er rückwärts durch die Halle lief. Mit zunehmender Entfernung von dem Laser sah er Jana darauf liegen – eine Sekunde später, und sie hätte ihn gehabt. Er feuerte mit solcher Frequenz, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich mit einem Sprung jenseits des YAG in Sicherheit zu bringen, dann war er aus der Halle heraus und im Innenhof.
Sie hörte Mirko entkommen und widerstand dem Impuls, ihm hinterherzulaufen. Er würde sie erwischen, sobald sie die Halle verließ. Draußen war er in der besseren Position.
Jana schenkte dem Streifschuss an ihrem Oberarm keine weitere Beachtung. Ohne den Griff um die Pistole zu lockern, trat sie hinter dem YAG hervor. Die Halle bot einen schrecklichen Anblick. Innerhalb einer Minute war ein Sturm der Vernichtung hindurchgefegt. Gruschkow war tot. Im vorderen Bereich lagen Mahder und die erschossenen Agenten. An der Wand gewahrte sie O’Connor, der sich langsam aufrichtete, ebenso wie der Schwarze weiter hinten. Kuhn versuchte, sich gleichfalls hochzustemmen, und knickte wieder ein. Von der Frau war nichts zu sehen.
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