Jana steckte die Walther PP zurück in ihren Gürtel und schob ein neues Magazin in die Glock. Sie sah zu dem Büro hinüber, durch das Mirko eingedrungen war. Es stand offen. Mit schnellen Schritten war sie dort und zog die Tür zu. Mirko konnte auf die Idee verfallen, ein zweites Mal das Fenster zu benutzen. Sie rechnete nicht wirklich mit einem solchen Dacapo, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er ein doppeltes Spiel trieb.
Irgendwie musste sie den Ausgang blockieren.
Sie stieß die Tür zum Computerraum auf und sah sich Kika Wagner gegenüber.
»Raus«, fuhr sie die Frau an. »Zu den anderen.« Dann kam ihr eine Idee. Während sie versuchte, alles gleichzeitig im Blick zu behalten, Wagner, O‘Connor und den gesprengten Eingang, gab sie der Frau den Befehl, einen Stuhl mit herauszubringen und den Zugang zum Büro zu blockieren.
Ihr Blick fiel auf den langen Holztisch.
»O’Connor!«
Er sah zu ihr herüber und rappelte sich hoch. Mit seinen weiß bandagierten Händen glich er auf bizarre Weise einem Butler. Sie fragte sich, ob er in der Lage war zuzupacken, aber er hatte auch die Absperrung des GEW-Geländes hinaufklettern können. Ohne die Türöffnung aus den Augen zu lassen, ging sie zu dem Schwarzen und zerrte ihn hoch. Der Mann ließ einen Schmerzenslaut hören. Sie bemerkte Blut auf seinem Oberschenkel und sah, dass er angeschossen worden war. Eigentlich ein Wunder, dass überhaupt jemand in der Halle überlebt hatte bei Hunderten herumpfeifender Projektile.
»Ihr beide«, sagte sie barsch, »du und O’Connor. Rüber zu dem Tisch.«
Der Schwarze blinzelte verständnislos mit schmerzverzerrter Miene. Sie wiederholte die Anordnung auf Englisch. Diesmal reagierte er, aber er humpelte auf O’Connor zu.
»Stopp!«
Er verharrte.
»Zum Tisch, habe ich gesagt«, schrie Jana. »Schnappt euch das Ding und verstellt die Tür damit. Los, beeilt euch.«
»Er ist verletzt«, sagte O’Connor. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er funkelte Jana zornig an.
»Dann mach es allein!«
Den Blick unverwandt auf Jana gerichtet, machte sich der Physiker an dem Tisch zu schaffen und begann, ihn über den Hallenboden zu schleifen. Das Geräusch war enervierend. Sie sah abwechselnd zu ihm und Wagner. Die Frau hatte den Stuhl unter der Klinke verkeilt und kam langsam herüber.
»Hilf ihm«, sagte Jana.
Wagner gehorchte. Zu zweit schafften sie es schneller. Aus irgendeinem Grund schätzte Jana, dass Mirko nicht auf die Frau oder O’Connor schießen würde. Noch nicht. Er hatte es ganz klar auf das Kommando abgesehen, aber ganz offensichtlich war ihm ebenso wenig an der Befreiung der Geiseln gelegen. Welche Pläne auch immer er verfolgte, er würde an allen Verrat üben, die noch in diesem Raum waren.
Voller Bitterkeit machte sie sich klar, dass das Trojanische Pferd zu keiner Zeit beabsichtigt hatte, das Kommando entkommen zu lassen. In ohnmächtiger Wut presste sie die Kiefer aufeinander. Nie zuvor in ihrem Leben war sie auf so perfide Weise getäuscht worden. Nie hatte sie sich selbst so schrecklich getäuscht! Wie eine Fata Morgana manifestierte sich die Zukunft vor ihr, das andere Leben, friedlich, unspektakulär, möglicherweise langweilig – aber was hätte sie alles gegeben für ein bisschen Langeweile am richtigen Ort! –, und verging, als hätte es die Vision niemals gegeben. Alles schien verloren. So kurz vor dem Ziel war sie ihrem Frieden ferner denn je, gefangen in dieser Halle, umdünstet von Blut und Angst. Übel konnte einem werden. Sie hasste Massaker. Massaker hatten nichts gemein mit einem sauber ausgeführten Mord, einer professionellen Tötung. Sie hatte die Gemetzel an den Krajina-Serben gehasst, an den Bosniern, an den Kosovaren, die Menschenverachtung eines Karadzic, die willkürlichen Hinrichtungsorgien von Arkan, all die Überfälle auf Bauernhäuser in der Nacht, das Hervorzerren von Menschen, das dumpfe Johlen der Horde, wenn Dutzende von Frauen und Kindern in Gruben gestoßen und Handgranaten hinterhergeworfen wurden, die Geräusche menschlichen Leids. Niemand, den sie je getötet hatte, hatte leiden müssen. Selbst der amerikanische Präsident, dessen Arroganz sich wie Säure ins Herz des Balkans gefressen hatte, der Mann, dem in wenigen Wochen gelungen war, was der monströse Apparat kommunistischer Propaganda in einem halben Jahrhundert nicht hatte zuwege bringen können, nämlich den Hass der Serben auf Amerika zu entfachen, sogar er wäre einen gnädigen, schnellen Tod gestorben, er hätte einfach aufgehört zu existieren, ein Symbol der Macht in diesem und des Scheiterns im nächsten Moment.
Ungeduldig sah sie zu, wie Wagner und O’Connor den Tisch vor die geschwärzte Öffnung wuchteten und zurückkehrten. Silberman war auf Händen und Knien zu Kuhn gekrochen und redete leise mit dem Lektor.
Was, wenn das Attentat gelungen wäre? Hätten Mirkos Männer auch dann die Spedition gestürmt? Wollte das Trojanische Pferd auf diese Weise alle Spuren tilgen? Aber dann stellten sie es grundverkehrt an, denn so legten sie die Spuren erst recht, die unweigerlich nach Belgrad führen würden oder nach Moskau. Man würde die Leichen identifizieren und herausfinden, wer sie waren. Sie und Gruschkow. Eine serbische Nationalistin und ein russischer Schwerverbrecher.
Es ergab keinen Sinn!
Es sei denn – dass sie genau dies beabsichtigten!
Jana konnte es nicht glauben. Warum sollten Mirko und seine Auftraggeber so etwas tun?
Sie musste dahinterkommen, was er vorhatte. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben, und solange Mirko die Halle belagerte, konnte sie nicht fliehen. Sie überlegte, was sie an seiner Stelle tun würde. Es bestand kein Zweifel daran, dass Mirko sich verschätzt hatte. Würde er Verstärkung anfordern? Wenn ihm daran gelegen war, Tabula rasa zu machen, stand auch er unter enormem Zeitdruck. Im Umkreis einiger hundert Meter gab es zwar keine Wohnhäuser, aber die Explosion oder die Schießerei konnte dennoch jemanden auf den Plan gerufen haben. Irgendwann würde die Polizei die Spedition ohnehin ausfindig machen. Jeder würde gegen jeden stehen.
Sie musste hier raus und Mirko zur Strecke bringen, bevor es so weit war.
Ihr Blick fiel auf den verletzten Angreifer, der sich mit der unversehrten Hand vom Boden hochstemmte. Einen Moment lang erwog sie, ihn zu töten.
Dann kam ihr eine bessere Idee.
»Wir könnten fliehen«, flüsterte Wagner, während sie die zerborstene Öffnung mit dem Tisch blockierten. »Du könntest fliehen, und ich bleibe bei Kuhn. Vielleicht sind noch einige von denen draußen.«
»Du meinst, die sollten uns hier rausholen?«, fragte er leise.
»Du nicht?«
»Ich weiß nicht. Wo sind die so schnell hergekommen? Vielleicht sollten sie die Terroristen fertig machen, aber wir schienen eher im Weg gestanden zu haben. Silberman ist getroffen worden.«
»Warum sonst sollten sie die Halle gestürmt haben?«
»Gute Frage. Ich weiß es nicht, aber wegen uns kann es nicht gewesen sein. Und warum dann nicht die Polizei? Ich glaube, wenn wir rausgehen, ist es noch unsicherer als hier drinnen.«
Tapsende Geräusche erklangen dicht hinter ihnen. Sie fuhren herum und sahen einen der Angreifer auf sich zutaumeln. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war eine Grimasse der Qual.
Jana sprang auf und hob die Waffe.
»Weg von der Tür!«
Der Mann blieb stehen. Er hob die Arme. Dort, wo die rechte Hand hätte sein müssen, war ein blutiger Stumpf, den er mit der Linken abdrückte. Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Er tapste ein paar Schritte rückwärts, verdrehte die Augen und fiel auf die Knie.
»Mein Gott«, sagte Wagner.
Sie lief zu ihm.
»O’Connor«, rief Jana. »Können Sie die Blutung stoppen?«
Der Mann war gegen Wagner gesunken, die ihn an den Schultern festhielt. O’Connor sah zu dem Verletzten herab. Mit schnellen Bewegungen löste er seine Krawatte. Der Mann war verzweifelt bemüht, mit der gesunden Hand die Arterie abzuklemmen und dem Spritzen des Blutes Einhalt zu gebieten, aber es würde nicht reichen, ihn vor dem Verbluten zu bewahren.
Читать дальше