O’Connor kniff die Augen zusammen. Er fuhr sich durch das silberne Haar und sagte ein paarmal: »Hm. Hm.«
»Soso.«
»Ich bin mir nicht sicher. Paddy hat ganz sicher Dreck am Stecken, und dass Kuhn verschwunden ist, sollte uns zutiefst beunruhigen. Vielleicht fangen wir aber auch an, Gespenster zu sehen.«
»Du meinst, es gibt gar keine Pläne für ein Attentat?«
»Möglicherweise nicht. Nur den armen kleinen Paddy und seine hausgemachten Probleme. Wie schade. Es versprach gerade spannend zu werden. Aber Verschwörungstheorien sind nun mal die Domäne der Amerikaner. Komm, schauen wir, was Lavallier hat.«
Sie nickte.
»Ich versuch’s noch mal bei Kuhn. Ganz gleich, was Lavallier sagt.« Während sie das Gebäude betraten und den Gang zum Büro des Hauptkommissars entlangschritten, meldete sich wieder Kuhns Mailbox. Wagner war entmutigt. Je länger er sich nicht meldete, desto schrecklicher wurde die Vorstellung, er könne vielleicht nie wieder an ein Telefon gehen.
Was, wenn er tot war?
Sie wollte diesen Gedanken nicht denken. Er hatte nichts in ihrem Kopf zu suchen.
»O’Connor«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Sie blieben stehen und drehten sich um. Lavallier kam ihnen mit eiligen Schritten hinterher.
»Mitkommen in mein Büro!«, sagte er schroff.
»Ah, Monsieur le Commissaire«, sagte O‘Connor liebenswürdig. »Was ist los, haben Sie Sorgen? Warum fliegen Sie nicht in Urlaub, es steht alles voller Flugzeuge, und–«
»Um es gleich auf den Punkt zu bringen«, sagte Lavallier, »ich kann jetzt keinen einzigen von Ihren blöden Kommentaren gebrauchen. Entweder Sie beide kommen mit, oder ich lasse Sie mitbringen. Letzteres würde Ihnen kaum gefallen, das versichere ich Ihnen.«
Er schob sie in sein Büro und deutete stumm auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Wagner setzte sich.
O’Connor sah missmutig drein.
»Was soll das?«, murrte er. »Haben wir was falsch gemacht? Waren wir zu lange draußen spielen?«
Lavallier schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»O’Connor, ich erkläre Ihnen jetzt mal was in klar verständlicher Sprache! Sie gehen mir auf die Nerven! Ich weiß nicht, was Sie mit Kuhns oder Clohessys Verschwinden zu tun haben oder ob überhaupt einer von den beiden wirklich verschwunden ist, aber kommen Sie mir nicht mit dem Märchen vom zufälligen Wiedersehen.«
O’Connor starrte zuerst Wagner an und dann den Kommissar. Dann nahm er widerwillig Platz.
»Sind Sie verrückt geworden?«, blaffte er.
Lavallier ließ sich in seinen Sessel fallen und verschränkte die Arme.
»Kennen Sie einen Foggerty?«
»Foggerty?«
»Ganz richtig.«
»Du lieber Himmel, wen ich alles kennen soll. Ich kenne dermaßen viele Leute, dass es mich nicht die Bohne interessiert.«
»Denken Sie nach!«
»Nein. Nein, ich kenne keinen Foggerty. Nicht mal, wenn er mir was schulden würde.«
Lavallier fletschte die Zähne und beugte sich vor.
»James Foggerty wird verdächtigt, im Laufe der vergangenen zehn Jahre in die Führungsspitze der Irisch Republikanischen Armee aufgestiegen zu sein. Derselbe Verein, dem auch unser Freund Clohessy angehörte.«
»Na und?«
»Foggerty war zur selben Zeit am Trinity College in Dublin wie Patrick und Sie. Wir haben das nachgeprüft. Und Sie kannten ihn. Sie hatten gemeinsame Professoren und gemeinsame Kurse.«
O’Connor wirkte plötzlich verwirrt. Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Kommissar Lavallier«, sagte er. »Auch ich kann nicht verhehlen, dass mir unser kleines Gespräch keine rechte Freude bereiten will. Das ist sehr schade, weil ich allmählich durchaus Geschmack an Ihnen finde. Wenn Sie mir eine Gegenfrage gestatten: Kennen Sie einen gewissen Krämer?«
»Hören Sie bloß auf«, zischte Lavallier. »Ich lasse Sie in Eisen legen, O’Connor!«
»Nein, Sie missverstehen mich. Ich verspreche ja, auf jede Ihrer Fragen wahrheitsgemäß zu antworten, aber kennen Sie einen Dieter Krämer?«
Lavallier schwieg einen Moment.
»Nein.«
»Er war aber mit Ihnen auf der Polizei-Akademie. Er hatte die gleichen Ausbilder und genauso wie Sie Kurse in Kriminologie, psychologischer Tätererfassung und Waffenkunde.« O’Connor lächelte. »Dieter Krämer könnte aber auch Fritz Schulte heißen. Oder sonst wie. Sehen Sie, am Trinity laufen Tausende Studenten rum, die die gleichen Lehrer und die gleichen Fächer haben, aber können Sie sich an jeden Einzelnen erinnern, der mal mit Ihnen in der Schule war?«
Lavallier sah ihn finster an.
»Niemand kann das. Trotzdem werden Sie mir etwas erklären, und erklären Sie es gut, wenn ich bitten darf.«
»So gut ich kann.«
»Warum schreibt Patrick Clohessy kurz vor seinem Verschwinden und eindeutig nach dem Treffen mit Ihnen in einem Brief, Sie seien ein Agent der IRA und hätten ihn im Auftrag von James Foggerty gesucht?«
»Ich soll was?«
O’Connor verlor sichtlich die Fassung. Wagner sah ihn an und merkte, wie sich der Boden unter ihren Füßen auftat.
O’Connor? Die IRA?
Kuhn hat gesagt, er hat mit der IRA sympathisiert. Kuhn ist verschwunden. Und Paddy auch.
Was um Himmels willen…
Langsam, dachte sie. Komm zur Räson! Du blöde Kuh! Lavallier sagt einen krummen Satz, und gleich witterst du Verrat.
»Erstens«, sagte sie, einem Impuls folgend, »wird Dr. O’Connor Ihnen diese Frage nicht beantworten. Da Sie so viel Wert auf klar verständliche Sprache legen, dürfte Sie das nicht überraschen. Zweitens wird er es allenfalls dann tun, wenn Sie uns einen schriftlichen Beweis für das vorlegen, was Sie gerade gesagt haben. Und lassen Sie mich klarstellen, dass der eine oder andere Anwalt augenblicklich hier sein wird, wenn ich es will.«
O’Connor sah sie aus runden Augen an.
Huch, dachte sie. Jemand muss durch mich gesprochen haben. Wie geschieht mir? Die Mutation zum unglaublichen Hulk?
Lavallier betrachtete sie unbeeindruckt. Dann griff er wortlos neben sich und schob ein Blatt Papier über den Schreibtisch.
»Eine Abschrift«, sagte er. »Das Original ist bei der Spurensicherung. Natürlich können Sie es später in Augenschein nehmen, wenn Sie drauf bestehen.«
O’Connor überflog die wenigen maschinengeschriebenen Zeilen und gab das Blatt an Wagner weiter.
»Weder mein Name kommt darin vor noch irgendetwas über die IRA«, sagte er.
»Nobelpreis«, konterte Lavallier. »Bücher. Foggerty.«
»Völliger Blödsinn.«
»So? Es sind Clohessys Fingerabdrücke auf dem Original.«
»Lavallier«, seufzte O’Connor. »Überprüfen Sie mich. Gehen Sie in Ihre gottverdammte Datenbank und holen Sie Informationen über mich ein. Ich bin eine Person des öffentlichen Lebens, jeder meiner Schritte ist besser kartografiert als die Erdoberfläche. Ich hatte nie Kontakt mit Foggerty. Wenn Sie mir ein Foto zeigen, werde ich ihn möglicherweise wiedererkennen, aber ich hatte keinen Kontakt mit ihm. Ich hatte überhaupt nie mit der IRA zu tun.«
»Sie wären fast vom College geflogen wegen der IRA.«
»Was? Ach, das!« O’Connor führte die Hand zur Stirn. »Oh Gott, Lavallier! Wir waren unausgegorene Breigehirne, die sich als Revoluzzer gefielen, weil es ihnen zu gut ging! Was haben Sie denn alles für Zeug von sich gegeben, als Sie jung waren? Paddy hat sich wirklich für die Probleme Nordirlands engagiert, ich hätte ebenso gut die Faust gegen das Aussterben der Wasserflöhe recken können. Mir ging es darum, Spaß zu haben.«
»Das war kein Spaß. Es kann kein Spaß sein, für eine terroristische Vereinigung–«
»Ich war gelangweilt«, sagte O’Connor heftig. »Begreifen Sie das nicht? Nein, das können Sie auch nicht begreifen, wenn es Ihnen vorne und hinten reingeschoben wird, dass Sie sich irgendwann fragen, was Sie eigentlich anstellen müssen, damit Sie mal auf die Schnauze fallen! Ich hatte immer jemanden, der mich rausgehauen hat, ich hätte um mich schießen können, verstehen Sie, wie öde das ist? Ich wollte, dass sie mich rauswerfen! Ich wollte raus aus diesem gemachten Bett, bevor mir darin die Knochen lahm wurden! Das war alles.«
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