Eine Stunde später stand Jennifer in den feudalen Büroräumen von Peabody & Peabody. Es war genau die Art von Kanzlei, in der sie sich immer arbeiten gesehen hatte, als vollwertiger Partner mit einer luxuriösen Ecksuite. Sie wurde in ein kleines Hinterzimmer geführt, wo eine geplagte Sekretärin ihr einen Stapel Vorladungen aushändigte. »Hier. Achten Sie darauf, Ihre Kilometerzahl zu notieren. Sie haben doch einen Wagen, oder?«
»Nein, ich fürchte, ich...«
»Gut, wenn Sie die U-Bahn nehmen, heben Sie die Tickets auf.«
»Gut.«
Den Rest des Tages verbrachte Jennifer damit, Vorladungen zuzustellen - in der Bronx, Brooklyn und Queens, bei strömendem Regen. Um acht Uhr abends hatte sie fünfzig Dollar verdient. Durchfroren und erschöpft kehrte sie in ihr Appartement zurück. Aber immerhin hatte sie Geld verdient, das erste, seit sie in New York eingetroffen war. Und die Sekretärin hatte ihr erklärt, daß noch ein ganzer Haufen Vorladungen zugestellt werden müsse. Es war harte Arbeit, so durch die ganze Stadt zu rennen, und es war demütigend. Man hatte Jennifer Türen vor der Nase zugeschlagen, sie verflucht, bedroht und zweimal belästigt. Die Aussicht auf einen weiteren solchen Tag war erschreckend; dennoch, solange sie in New York bleiben konnte, bestand Hoffnung, egal, wie entfernt die auch sein mochte.
Jennifer ließ sich ein heißes Bad ein und stieg in das Wasser. Langsam ließ sie sich auf den Boden der Wanne gleiten und genoß den Luxus des über ihrem Körper zusammenschwappenden Wassers. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie erschöpft sie war. Jeder Muskel schien zu schmerzen. Sie beschloß, daß sie außerdem noch ein gutes Abendessen brauchte, um sich aufzuheitern. Sie würde schlemmen. Ich verschreibe mir ein richtiges Restaurant, dachte sie, ein Lokal mit Tischtüchern und Gedecken. Vielleicht gibt es dort leise Musik, und ich werde ein Glas Weißwein trinken und...
Ihre Gedanken wurden von der Klingel an der Tür unterbrochen. Es war ein ungewohntes Geräusch. Seit sie hier vor zwei Monaten eingezogen war, hatte sie nicht einen einzigen Besucher gehabt. Es konnte sich nur um die mürrische Wirtin handeln, die die überfällige Miete kassieren wollte. Zu müde, sich zu bewegen, rührte Jennifer sich nicht, in der Hoffnung, die Vermieterin würde wieder verschwinden. Das Klingelzeichen wiederholte sich. Widerstrebend stieg Jennifer aus dem warmen Bad. Sie streifte ein samtenes Hauskleid über und ging zur Tür. »Wer ist da?« Auf der anderen Seite der Tür fragte eine männliche Stimme: »Miß Jennifer Parker?« »Ja.«
»Mein Name ist Adam Warner. Ich bin Anwalt.« Verwirrt legte Jennifer die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der Mann vor der Tür war in den Dreißigern, groß, blond und breitschultrig. Er hatte graublaue, neugierige Augen und trug eine horngerahmte Brille. Sein maßgeschneiderter Anzug mußte ein Vermögen gekostet haben.
»Darf ich eintreten?« fragte er.
Einbrecher pflegten keine maßgeschneiderten Anzüge, Gucci-Schuhe und Seidenschlipse zu tragen. Sie hatten im allgemeinen auch keine langen, sensiblen Hände mit manikürten Fingernägeln.
»Einen Moment, bitte.« Jennifer hakte die Sicherheitskette aus und öffnete die Tür. Während Adam Warner eintrat, blickte Jennifer sich rasch in ihrem Appartement um. Sie versuchte, es mit seinen Augen zu sehen, und zuckte zusammen. Er sah aus, als sei er Besseres gewohnt. »Womit kann ich Ihnen helfen, Mr. Warner?« Mit einem Schlag wußte Jennifer, warum er da war. Aufregung durchfuhr sie. Es handelte sich um eine der Stellen, um die sie sich beworben hatte. Sie wünschte sich, ein schönes, dunkelblaues Modellkleid anzuhaben, gut frisiert zu sein und...
Adam Warner sagte: »Ich gehöre dem Disziplinarausschuß der New Yorker Anwaltschaft an, Miß Parker. Staatsanwalt Robert Di Silva und Richter Lawrence Waldman haben die Beschwerdeabteilung aufgefordert, Ihren Ausschluß aus der Anwaltskammer in die Wege zu leiten.«
Die Anwaltskanzlei Needham, Finch, Pierce und Warner lag in der Wall Street und umfaßte das gesamte oberste Stockwerk des Gebäudes Nr. 30. Hundertfünfundzwanzig Anwälte arbeiteten für die Kanzlei. Die Büroräume rochen nach altem Geld und waren mit der ruhigen Eleganz eingerichtet, die einer Firma anstand, die einige der größten Namen in der Industrie vertrat.
Adam Warner und Stewart Needham tranken ihren rituellen Morgentee. Stewart Needham war Ende Sechzig, adrett und in bester Verfassung. Er hatte einen kleinen Van-Dyke-Bart und trug einen Tweedanzug mit Weste. Er sah aus, als gehörte er in eine frühere Zeit, aber sein Verstand arbeitete, wie Hunderte von Gegnern zu ihrem Leidwesen im Lauf der Jahre hatten erfahren müssen, blendend unter den Gegebenheiten des zwanzigsten Jahrhunderts. Man konnte ihn nur als einen Titan bezeichnen, aber sein Name war lediglich in den Kreisen bekannt, die wirklich zählten. Er zog es vor, im Hintergrund zu bleiben und seinen beträchtlichen Einfluß in erster Linie dazu zu benutzen, die Gesetzgebung, Berufungen in hohe Regierungsämter und die Innenpolitik zu steuern. Er stammte aus Neuengland und war schon wortkarg erzogen worden. Adam Warner hatte Needhams Nichte Mary Beth geheiratet und wurde von ihm protegiert. Adams Vater war ein angesehener Senator gewesen, er selber hatte sich zu einem brillanten Anwalt entwickelt. Nachdem er die juristische Ausbildung an der Harvarduniversität magna cum laude abgeschlossen hatte, war er mit Angeboten der angesehensten Kanzleien des Landes überschüttet worden. Er hatte sich für Needham, Finch und Pierce entschieden und war sieben Jahre später als Partner in die Firma aufgenommen worden. Adam sah gut aus, besaß Charme, und seine Intelligenz schien seiner Ausstrahlung eine weitere Dimension zu verleihen. Seine lässige Selbstsicherheit stellte für jede Frau eine Herausforderung dar. Schon seit langem hatte er ein System entwickelt, sich weibliche Klienten mit übergroßem amourösen Interesse vom Leib zu halten. Er war seit vierzehn Jahren mit Mary Beth verheiratet und hielt nichts von Seitensprüngen. »Noch etwas Tee, Adam?« fragte Stewart Needham. »Nein, danke.« Adam Warner haßte Tee, und seit acht Jahren trank er ihn nur deshalb jeden Morgen, weil er seinen Partner nicht kränken wollte. Needham kochte das Gebräu selber, und es war schauerlich.
Stewart Needham wollte über zwei Angelegenheiten sprechen. Es war typisch für ihn, daß er mit den angenehmen Neuigkeiten begann. »Gestern abend habe ich ein paar alte Freunde getroffen«, sagte er. Alte Freunde war eine Umschreibung für eine Gruppe der mächtigsten Männer des Landes. »Sie erwägen, dich um eine Kandidatur für den Senat zu bitten, Adam.«
Adam war freudig überrascht. Da er um Needhams vorsichtige Natur wußte, war ihm klar, daß das Gespräch mehr als nur zufällig gewesen war.
»Die große Frage ist natürlich, ob es dich überhaupt interessiert. Es würde einige Umstellungen für dich bedeuten.« Adam Warner wußte das. Gewann er die Wahl, würde er nach Washington D. C. ziehen, seine Anwaltstätigkeit aufgeben und ein völlig neues Leben beginnen müssen. Mary Beth würde es sicher genießen; ob es auch ihm gefallen würde, war Adam nicht ganz klar. Trotzdem, er war in dem Bewußtsein erzogen worden, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem mußte er zugeben, daß Macht ihm eine gewisse Genugtuung bedeutete.
»Ich wäre sehr interessiert, Stewart.«
Stewart Needham nickte zufrieden. »Gut, sie werden sich freuen, das zu hören.« Er schenkte sich eine weitere Tasse des scha uerlichen Gebräus ein und brachte nebenbei das Gespräch auf die andere Sache, die ihn beschäftigte. »Der Disziplinarausschuß der Anwaltskammer möchte, daß du eine kleine Geschichte für sie regelst, Adam. Es sollte dich nicht mehr als eine oder zwei Stunden kosten.«
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