Es gab noch andere, eiligere Angelegenheiten, die seine Aufmerksamkeit verlangten, wichtige Fälle guter Mandanten. Es wäre leicht gewesen, sich einfach darauf zu beschränken, nach Stewart Needhams, Richter Lawrence Waldmans und Robert Di Silvas Wünschen zu handeln, aber sein Instinkt ließ Adam Warner zögern. Er griff noch einmal nach Jennifer Parkers Akte, kritzelte einige Notizen an den Rand und führte eine Reihe von Ferngesprächen.
Ihm war Verantwortung übertragen worden, und er gedachte, im Rahmen seiner Fähigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Er erinnerte sich nur zu gut an die lange Schinderei, die es bedeutete, Anwalt zu werden und in die Standesvereinigung aufgenommen zu werden. Es war ein Preis, um den man Jahre kämpfen mußte, und Adam wollte ihn Jennifer nur dann wieder wegnehmen, wenn es wirklich gerechtfertigt war.
Am nächsten Morgen flog Adam nach Seattle. Er traf sich mit Jennifers Professoren an der Universität, dem Vorstand der Kanzlei, in der Jennifer zwei Sommer lang ihr Praktikum absolviert hatte, und mit einigen ihrer Studienkollegen. Stewart Needham rief ihn an und fragte: »Was hast du da oben zu suchen, Adam? Hier wartet jede Menge wichtiger Arbeit auf dich. Die Parker-Sache ist doch mit einem Fingerschnippen zu erledigen.«
»Ein paar Punkte sind noch nicht geklärt«, sagte Adam behutsam. »Morgen oder übermorgen bin ich zurück, Stewart.« Eine kleine Pause entstand. »Ich verstehe. Laß uns mit ihr nicht mehr Zeit als unbedingt nötig verschwenden.«
Als Adam Seattle verließ, hatte er das Gefühl, Jennifer Parker fast so gut zu kennen, wie sie sich selbst kannte. Das Bild, das er nach all den Gesprächen von ihr hatte, besaß nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem, das Robert Di Silva entworfen hatte. Falls Jennifer Parker nicht die beste Schauspielerin aller Zeiten war, konnte sie unmöglich an dem Komplott zu Michael Morettis Befreiung beteiligt gewesen sein.
Jetzt, fast zwei Wochen nach dem morgendlichen Gespräch mit Stewart Needham, stand Adam vor dem Mädchen, mit dessen Vergangenheit er sich so intensiv beschäftigt hatte.
Die Zeitungsbilder, die er von ihr gesehen hatte, hatten ihn nicht auf den Eindruck vorbereitet, den sie auf ihn machte. Sogar in dem alten Kleid, ohne Makeup und mit feuchtem Haar war sie atemberaubend.
Adam sagte: »Ich bin beauftragt, Ihre Rolle im Moretti-Prozeß zu untersuchen, Miß Parker.«
»Sind Sie das!« Jennifer fühlte Wut in sich aufsteigen, die sie rasch mit lodernden Flammen erfüllte. Sie waren immer noch nicht fertig mit ihr. Sie würden sie ihr Leben lang bezahlen lassen. Allmählich hatte sie genug.
Als sie sprach, zitterte ihre Stimme. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Sir. Erzählen Sie dem Ausschuß, was Sie wollen. Ich habe eine Dummheit begangen, aber soweit ich weiß, gibt es kein Gesetz gegen Dummheit. Der Staatsanwalt glaubt, jemand hätte mich bestochen.« Höhnisch warf sie die Hände in die Höhe. »Glauben Sie, ich würde in diesem Loch leben, wenn ich auch nur ein bißchen Geld hätte?« Ihre Stimme klang plötzlich erstickt. »Es... es ist mir egal, was Sie tun. Lassen Sie mich in Ruhe, mehr will ich nicht. Gehen Sie!« Sie drehte sich um, floh ins Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Tiefatmend lehnte sie sich gegen das Waschbecken und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie wußte, daß sie sich dumm benommen hatte. Wieder einmal, dachte sie trocken. Sie hätte Adam Warner anders behandeln sollen. Statt ihn anzubrüllen, hätte sie versuchen müssen, ihm alles zu erklären. Vielleicht wäre sie dann nicht ausgeschlossen worden. Aber sie wußte, da ß es sich dabei nur um Wunschträume handelte. Es war Augenwischerei, daß sie jemanden geschickt hatten, der sie befragen sollte. Als nächstes würden sie sie schriftlich auffordern, sich zu rechtfertigen, und dann würden sich die Zahnräder in Bewegung setzen. Man würde ihr verbieten, im Staat New York zu praktizieren. Bitter dachte Jennifer: Ich werde ins Guinness Buch der Rekorde eingehen - wegen der kürzesten Anwaltskarriere in der Geschichte. Sie stieg wieder in die Badewanne und lehnte sich zurück, um sich von dem noch immer warmen Wasser beruhigen zu lassen. In diesem Augenblick war sie zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen, was aus ihr werden würde. Sie schloß die Augen und war schon beinahe eingeschlafen, als das kalte Wasser sie wieder aufweckte. Sie wußte nicht, wie lange sie in der Badewanne gelegen hatte. Widerwillig stieg sie heraus und trocknete sich ab. Jetzt hatte sie keinen Hunger mehr. Das Gespräch mit Adam Warner hatte ihr den Appetit verdorben. Jennifer kämmte sich, trug Nachtcreme auf und beschloß, ohne Abendessen ins Bett zu gehen. Morgen würde sie noch einmal wegen der Mitfahrgelegenheit nach Seattle telefonieren. Sie öffnete die Badezimmertür und ging in das Wohnzimmer.
Adam Warner saß in einem Stuhl und blätterte in einem Magazin. Er sah auf, als Jennifer den Raum betrat - nackt. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Ich...« Jennifer stieß einen kleinen Schrei aus und floh ins Badezimmer, wo sie ihr Kleid überstreifte. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, kochte sie vor Wut. »Das Verhör ist vorbei. Ich habe Sie gebeten, zu gehen.« Adam legte das Magazin weg und sagte ruhig: »Miß Parker, wäre es vielleicht möglich, daß wir einen Moment lang wie vernünftige Menschen miteinander reden?«
»Nein!« Der alte Zorn stieg wieder in Jennifer hoch. »Ich habe Ihnen oder Ihrem verdammten Disziplinarausschuß nichts mehr zu sagen. Ich bin es leid, wie ein... wie ein Verbrecher behandelt zu werden.«
»Habe ich behauptet, Sie seien ein Verbrecher?« fragte Adam ruhig.
»Sie... sind Sie nicht deswegen hier?«
»Ich habe Ihnen gesagt, weswegen ich hier bin. Ich bin ermächtigt, meine Untersuchungen anzustellen und mich dann für oder gegen ein Ausschlußverfahren auszusprechen. Ich möchte gern Ihre Version der Geschichte hören.«
»Ich verstehe. Und was wollen Sie dafür haben?« Adams Gesichtsausdruck gefror. »Entschuldigen Sie, Miß Parker.« Er stand auf und ging zur Tür. »Einen Augenblick!« Adam drehte sich um. »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Jennifer. »Ich... ich halte schon jeden für einen Feind. Ich möchte mich entschuldigen.«
»Ich nehme Ihre Entschuldigung an.«
Jennifer wurde sich plötzlich ihres schäbigen Kleides bewußt. »Wenn Sie immer noch bereit sind, mir Ihre Fragen zu stellen, ziehe ich mir etwas anderes an, und dann können wir reden.«
»Einverstanden. Haben Sie schon gegessen?«
Sie zögerte. »Ich...«
»Ich kenne ein französisches Restaurant, das für Verhöre wie geschaffen ist.«
Es war ein kleines, anheimelndes Bistro auf der East Side. »Dieses Lokal ist ein Geheimtip«, sagte Adam Warner, als sie saßen. »Es gehört einem jungen französischen Ehepaar, das früher im Les Pyrénées gearbeitet hat. Das Essen ist exzellent.« Jennifer mußte sich mit Adams Wort zufriedengeben, denn sie war unfähig, die Speisen auch nur zu kosten. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, aber sie war so nervös, daß sie nicht einen einzigen Bissen heruntergekriegt hätte. Sie versuchte, sich zu entspannen, aber es war unmöglich. Was auch immer er behaupten mochte, der charmante Mann auf der anderen Seite des Tisches war ihr Feind. Charmant war er wirklich, wie Jennifer zugeben mußte. Er war amüsant, attraktiv, und unter anderen Bedingungen hätte Jennifer den Abend ungeheuer genossen; aber es gab keine anderen Bedingungen. Ihre ganze Zukunft lag in den Händen dieses Fremden. In der nächsten Stunde mußte sich entscheiden, wie ihr weiteres Leben verlaufen würde. Adam setzte alles daran, sie zu entspannen. Er erzählte, daß er erst kürzlich von einer Japanreise zurückgekehrt sei, wo er sich mit hohen Regierungsbeamten getroffen habe. Zu seinen Ehren sei ein feierliches Bankett veranstaltet worden.
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