»Keine Sorge, Mrs. Desser, zwei meiner besten Leute arbeiten an Ihrem Fall. Wir rechnen jeden Tag mit Informationen über Ihren Mann. Allerdings müßte ich Sie um einen weiteren kleinen Spesenvorschuß bitten... Nein, Sie brauchen es mir nicht zu schicken. Sie wissen ja, wie das mit der Post ist. Ich habe heute nachmittag in Ihrer Nähe zu tun. Ich schaue kurz bei Ihnen vorbei und hole es ab.« Er legte den Hörer auf und bemerkte Jennifer. Er stand auf, lächelte und streckte ihr eine kräftige Hand entgegen. »Ich bin Kenneth Bailey. Was kann ich an diesem schönen Tag für Sie tun?«
Jennifer blickte sich in dem kleinen, stickigen Raum um und sagte unsicher: »Ich - ich bin wegen Ihrer Anzeige hier.«
»Oh.« Die blauen Augen wirkten erstaunt. Der kahlköpfige Mann starrte Jennifer an. Kenneth Bailey stellte ihn vor: »Das ist Otto Wenzel, das Rockefeller Inkassobüro.«
Jennifer nickte. »Hallo.« Dann wandte sie sich wieder Kenneth Bailey zu. »Und Sie sind die Auskunftei Bailey?«
»Richtig. Und was tun Sie?«
»Ich? Oh, ich bin Anwältin.«
Kenneth Bailey betrachtete sie skeptisch. »Und Sie wollen hier ein Büro eröffnen?«
Jennifer musterte noch einmal den trostlosen Raum und sah sich selber zwischen diesen beiden Männern an dem dritten Tisch sitzen. »Vielleicht sollte ich noch ein bißchen weitersuchen«, meinte sie. »Ich bin nicht sicher...«
»Die Miete würde nur neunzig Dollar im Monat betragen.«
»Für neunzig Dollar im Monat könnte ich das ganze Haus kaufen«, gab Jennifer zurück und wandte sich zum Gehen. »Warten Sie einen Moment.« Jennifer blieb stehen.
Kenneth Bailey rieb sich das bleiche Kinn. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag - sechzig! Wenn Ihr Geschäft angelaufen ist, sprechen wir über eine Erhöhung, okay?« Es war wirklich ein Vorschlag. Jennifer wußte, daß sie nirgendwo anders einen Raum für diesen Betrag finden würde. Andererseits sah sie keine Möglichkeit, jemals einen Mandanten in dieses Loch zu locken. Und dann gab es noch einen weiteren Punkt, der sie beschäftigte. Sie hatte die sechzig Dollar nicht. »Ich nehme es«, sagte sie.
»Sie werden es nicht bereuen«, versprach Kenneth Bailey. »Wann wollen Sie Ihre Sachen herbringen?«
»Die sind schon da.«
Kenneth Bailey malte ihr Geschäftsschild selber auf die Tür. JENNIFER PARKER RECHTSANWALT
Jennifer betrachtete das Schild mit gemischten Gefühlen. Selbst in ihren dunkelsten Stunden hatte sie sich ihren Namen nicht unter denen eines Privatdetektivs und eines Geldeintreibers gesehen. Und doch, wenn sie sich das leicht gebogene Schild ansah, konnte sie einem Gefühl des Stolzes nicht widerstehen. Sie war Anwältin. Das Schild bewies es.
Jetzt, wo Jennifer einen Büroraum hatte, fehlten ihr nur noch Mandanten.
Zur Zeit konnte sie sich nicht einmal mehr die Eckkneipe leisten. Ihr Frühstück bestand aus Toast und Kaffee, zubereitet auf einer Wärmplatte, die sie auf den Heizkörper in dem winzigen Badezimmer gestellt hatte. Auf das Mittagessen verzichtete sie ganz, und das Abendessen verlegte sie in das »Zum Zum«, wo es vorzugsweise große Wurstscheiben, Brotschwarten und heißen Kartoffelsalat gab. Um Punkt neun Uhr morgens ließ sie sich an ihrem Schreibtisch nieder, aber ihre einzige Tätigkeit bestand darin, Ken Bailey und Otto Wenzel beim Telefonieren zuzuhören. Ken Baileys Fälle bestanden in erster Linie aus verschwundenen Ehemännern oder Kindern, und am Anfang war Jennifer davon überzeugt, daß er ein Betrüger war, der hauptsächlich Versprechungen machte und dafür hohe Vorschüsse kassierte. Aber sie merkte schnell, daß Bailey hart arbeitete und oft Erfolg hatte. Er war intelligent und gewitzt. »Otto arbeitet für Kreditgesellschaften«, erklärte er Jennifer einmal. »Sie beauftragen ihn damit, nicht abbezahlte Autos, Fernsehapparate oder Waschmaschinen zurückzuholen. Und Sie?«
»Ich?«
»Haben Sie nicht wenigstens einen Mandanten?«
»Ich habe einiges in petto«, antwortete Jennifer ausweichend.
Er nickte. »Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Jeder kann mal
einen Fehler machen.«
Jennifer fühlte, wie sie rot wurde. Also wußte sogar er über sie Bescheid.
Ken Bailey packte ein großes, dickes Roastbeef-Sandwich aus. »Wollen Sie einen Bissen?«
Es sah köstlich aus. »Nein, danke«, lehnte Jennifer fest ab. »Ich esse nie zu Mittag.«
»Wie Sie wollen.«
Sie sah ihm zu, wie er in das saftige Sandwich biß. Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck und fragte noch einmal: »Sind Sie sicher, daß Sie nicht...«
»Nein, wirklich nicht. Ich habe eine Verabredung.« Ken Bailey blickte Jennifer nach, als sie das Büro verließ, und sein Gesicht wirkte besorgt. Er war stolz auf seine Menschenkenntnis, aber Jennifer Parker verwirrte ihn. Auf Grund der Fernseh- und Zeitungsberichte war er sicher gewesen, jemand habe sie bezahlt, damit sie die Anklage gegen Michael Moretti zu Fall bringe. Aber jetzt, nachdem er sie kennengelernt hatte, war er davon nicht mehr so überzeugt. Er war einmal verheiratet gewesen und hatte die Hölle auf Erden erlebt. Er hatte wirklich keine allzu hohe Meinung von Frauen. Aber etwas sagte ihm, daß Jennifer etwas Besonderes war. Sie war schön, intelligent und sehr stolz. Jesus, warnte er sich, sei kein Idiot. Ein Mord auf deinem Gewissen ist mehr als genug.
Kommt zu mir, ihr, die ihr hungrig, arm und verzweifelt seid, dachte Jennifer zynisch, mein Gott, die Inschrift auf der Freiheitsstatue war schon eine sentimentale Angelegenheit. In New York kümmert sich niemand darum, ob du lebst oder krepierst. Hör auf, dich selber zu bemitleiden!
Aber es war schwer. Ihre Barschaft war auf achtzehn Dollar geschrumpft, die Miete für das Appartement überfällig und die für ihren Büroanteil in zwei Tagen ebenfalls. Sie hatte nicht genug Geld, um noch länger in New York zu bleiben, und auch nicht genug, um der Stadt den Rücken zu kehren. Noch einmal hatte sie anhand der gelben Seiten im Telefonbuch in alphabetischer Reihenfolge alle Anwaltsbüros angerufen, um einen Job zu bekommen. Sie tätigte die Gespräche von einer Zelle aus, denn sie wollte nicht, daß Ken Bailey und Otto Wenzel mithörten. Das Ergebnis war immer gleich. Niemand war an ihren Diensten interessiert. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als nach Kelso zurückzugehen und als Rechtshilfe oder Sekretärin für einen der Freunde ihres Vaters zu arbeiten. Wie unglücklich er darüber gewesen wäre. Es war eine bittere Niederlage, aber sie hatte keine Wahl. Sie würde als Versager nach Hause zurückkehren. Das Problem dabei war nur die Reise. In der Nachmittagsausgabe der New York Post fand sie eine Anzeige, in der ein zahlender Mitfahrer nach Seattle gesucht wurde. Jennifer wählte die angegebene Nummer, aber niemand hob ab. Sie beschloß, es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen.
Am folgenden Tag ging Jennifer zum letztenmal ins Büro. Otto Wenzel war nicht da, aber Ken Bailey hing wie üblich am Telefon. Er trug Blue jeans und einen Kaschmir-Pullover mit V-Ausschnitt.
»Ich habe Ihre Frau gefunden«, sagte er gerade. »Das einzige Problem ist, daß sie nicht wieder nach Hause will, alter Junge. Ich weiß... wer versteht schon die Frauen? Okay... ich sage Ihnen, wo sie sich aufhält, und dann können Sie ja Ihren Charme spielen lassen, um sie zurückzuholen.« Er gab eine Hoteladresse durch. »Nichts zu danken.« Er hängte auf und drehte sich zu Jennifer um. »Sie sind heute spät dran.«
»Mr. Bailey, ich - ich fürchte, ich muß abreisen. Ich überweise Ihnen das Geld für die Miete, sobald ich kann.« Ken Bailey lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah sie nachdenklich an. Sein Blick verunsicherte Jennifer.
»Geht das in Ordnung?« fragte sie.
»Zurück nach Washington?« wollte er wissen.
Sie nickte.
Ken Bailey fragte: »Könnten Sie mir einen kleinen Gefallen tun, ehe Sie abreisen? Ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, bekniet mich die ganze Zeit, damit ich einige Vorladungen für ihn zustelle, aber ich habe keine Zeit. Er zahlt zwölf Dollar fünfzig für jede Vorladung, plus Kilometergeld. Würden Sie das für mich tun?«
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