Patrick Maguire taxierte die Geschworenen. Jennifer bombardierte sie mit Statistiken, und Maguire konnte sehen, daß sie gelangweilt waren. Der Prozeß wurde zu technisch. Er ging nicht länger um ein verkrüppeltes Mädchen, sondern um Lastwagen, Bremszeiten und defekte Bremstrommeln. Die Geschworenen verloren das Interesse.
Maguire blickte zu Jennifer hinüber und dachte: Sie ist nicht so clever, wie man behauptet. Er wußte, daß er an ihrer Stelle die Statistiken vergessen, die mechanischen Probleme ignoriert und statt dessen mit den Emotionen der Geschworenen gespielt hätte. Jennifer Parker tat genau das Gegenteil. Patrick Maguire lehnte sich zurück und entspannte sich. Jennifer näherte sich dem Richtertisch. »Euer Ehren, mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich gern ein Beweisstück ins Protokoll aufnehmen lassen.«
»Was für ein Beweisstück?« fragte Richter Silverman. »Zu Anfang dieses Prozesses habe ich der Jury versprochen, daß sie Connie Garrett kennenlernen würde. Da sie nicht persönlich hier sein kann, würde ich den Geschworenen gern einige Bilder von ihr zeigen.«
Richter Silverman sagte: »Dagegen sehe ich keine Einwände.« Er wandte sich an Patrick Maguire. »Hat der Verteidiger irgendwelche Einwände?«
Patrick Maguire stand auf. Er bewegte sich langsam, aber sein Gehirn lief auf Hochtouren. »Was für Bilder?« Jennifer erwiderte: »Einige Bilder, die in Connie Garretts Wohnung aufgenommen worden sind.« Patrick Maguire hätte es lieber gesehen, wenn keine Bilder gezeigt worden wären; aber auf der anderen Seite wirkten Fotografien von einem verkrüppelten Mädchen in einem Rollstuhl wesentlich weniger dramatisch, als es ein persönlicher Auftritt des Mädchens getan hätte. Und es galt noch einen weiteren Faktor zu berücksichtigen: Wenn er Einspruch erhob, würde ihn das in den Augen der Jury unsympathisch wirken lassen. Großzügig sagte er: »Wenn Sie unbedingt wollen, zeigen Sie die Bilder.«
»Danke.«
Jennifer wandte sich an Dan Martin und nickte. Zwei Männer im Hintergrund bewegten sich mit einer tragbaren Leinwand und einem Filmprojektor nach vorn und stellten sie auf. Überrascht sprang Patrick Maguire auf: »Warten Sie mal! Was soll das?«
Unschuldig antwortete Jennifer: »Wir zeigen nur die Bilder, zu denen Sie eben Ihre Zustimmung gegeben haben.«
Patrick Maguire rauchte vor Wut, aber er schwieg. Jennifer hatte nichts von bewegten Bildern gesagt. Aber jetzt war es zu spät, Einspruch zu erheben. Er nickte knapp und setzte sich wieder hin.
Jennifer hatte die Leinwand so aufstellen lassen, daß Richter und Geschworene gut sehen konnten. »Könnten wir den Raum verdunkeln, Euer Ehren?« Der Richter gab dem Gerichtsdiener ein Zeichen, und das Licht wurde ausgeschaltet. Jennifer ging zu dem 16mm-Projektor und stellte ihn an.
Die nächsten dreißig Minuten hielt jeder im Gerichtssaal den Atem an. Jennifer hatte einen professionellen Kameramann und einen jungen Werbefilmregisseur engagiert. Sie hatten einen Tag im Leben von Connie Garrett gefilmt, und es war ein Film wie ein Faustschlag geworden. Nichts blieb der Einbildung überlassen. Der Film zeigte die schöne, junge Amputierte, wie sie morgens aus dem Bett gehoben und auf die Toilette getragen wurde, wie sie, einem kleinen, hilflosen Baby gleich, gesäubert, gebadet, gefüttert und angezogen werden mußte. Jennifer hatte den Film wieder und immer wieder gesehen, und jetzt, als sie ihn erneut erlebte, fühlte sie denselben Klumpen im Hals wie beim erstenmal, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wußte, daß der Film auf den Richter, die Jury und die Zuschauer im Gerichtssaal genauso wirken mußte.
Als der Film zu Ende war, wandte sich Jennifer an Richter Silverman. »Die Klagevertretung hat die Beweisaufnahme abgeschlossen?«
Die Jury war bereits über zehn Stunden draußen, und mit jeder verstreichenden Stunde sank Jennifers Mut. Sie hatte ein sofortiges Urteil erwartet. Wenn die Geschworenen von dem Film so berührt gewesen wären wie sie, hätte die Urteilsfindung nicht länger als eine oder zwei Stunden dauern können.
Als die Jury den Raum verlassen hatte, war Patrick Maguire außer sich vor Wut gewesen, sicher, daß er den Fall verloren und Jennifer Parker unterschätzt hatte. Aber als die Stunden vergingen und die Jury nicht zurückkehrte, stiegen seine Hoffnungen wieder. Für eine von Emotione n geprägte Entscheidung hätten die Geschworenen nicht so lange gebraucht. »Wir werden mit einem blauen Auge davonkommen. Je länger sie da draußen herumstreiten, desto mehr wird die Erinnerung an den Film verblassen«, sagte er zu einem seiner Assistenten.
Einige Minuten vor Mitternacht sandte der Vorsitzende der Jury Richter Silverman eine Notiz, in der er um eine Rechtsbelehrung bat. Der Richter studierte die Bitte, dann blickte er auf. »Würden die beiden Anwälte bitte an den Richtertisch treten.«
Als Jennifer und Patrick Maguire vor ihm standen, sagte der Richter: »Ich möchte Sie über eine Nachricht in Kenntnis setzen, die ich gerade vom Vorsitzenden der Jury erhalten habe. Die Geschworenen fragen, ob sie vom Gesetz her die Erlaubnis haben, Connie Garrett mehr als die fünf Millionen Dollar zuzusprechen, auf die ihre Anwältin geklagt hat.« Jennifer fühlte sich schwindlig. Ihr Herz schien zu schweben. Sie blickte Patrick Maguire an. Sein Gesicht war leichenblaß. »Ich teile der Jury mit«, sagte Richter Silverman, »daß es ihrem Ermessen überlassen bleibt, welche Summe sie für gerechtfertigt hält.«
Dreißig Minuten später kehrten die Geschworenen in den Gerichtssaal zurück. Der Vorsitzende gab bekannt, daß ihr Urteil zugunsten der Klägerin ausgefallen war. Die Höhe des Connie Garrett zugesprochenen Schadensersatzes belief sich auf sechs Millionen Dollar. Es war die höchste Schadensersatzsumme in der Geschichte des Staates New York.
Als Jennifer am nächsten Morgen ihr Büro betrat, fand sie ein Arsenal von Zeitungen auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet. Sie war auf jeder Titelseite. Vier Dutzend wunderschöne Rosen standen in einer Vase daneben. Jennifer lächelte. Adam hatte die Zeit gefunden, ihr Blumen zu schicken. Sie blickte auf das Kärtchen: Herzliche Glückwünsche. Michael Moretti.
Die Sprechanlage summte, und Cynthia sagte: »Mr. Adams is t in der Leitung.«
Jennifer griff hastig nach dem Hörer. Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. »Hallo, Liebling.« »Du hast es schon wieder geschafft.« »Ich hatte Glück.«
»Deine Mandantin hatte Glück. Glück, eine Anwältin wie dich zu haben. Du mußt dich jetzt doch wunderbar fühlen.«
Einen Prozeß zu gewinnen, gab ihr ein gutes Gefühl. Aber wunderbar fühlte sie sich nur, wenn sie bei Adam war. »Ja.«
»Ich muß dir etwas Wichtiges sagen«, meinte Adam. »Kannst du dich am Nachmittag auf einen Drink mit mir treffen?«
Jennifers Herz wurde schwer. Es konnte nur eins sein, das Adam ihr zu sagen hatte: Er würde sie in Zukunft nicht mehr sehen können.
»Ja. Ja, natürlich.«
»Bei Mario? Um sechs?«
»Gut.«
Sie gab Cynthia die Rosen.
Adam wartete an einem Tisch ganz hinten im Raum. Damit er keinen Ärger bekommt, wenn ich hysterisch werde, dachte Jennifer. Nun, sie war fest entschlossen, nicht zu weinen. Nicht vor Adam. Sie konnte an seinem hageren, abgespannten Gesicht erkennen, was er durchgemacht hatte, und sie wollte es ihm so leicht wie möglich machen. Jennifer setzte sich hin, und Adam ergriff ihre Hand.
»Mary Beth hat in die Scheidung eingewilligt«, sagte Adam, und Jennifer starrte ihn sprachlos an.
Mary Beth hatte das Gespräch darauf gebracht, nicht er. Sie waren auf dem Rückweg von einem Wahlessen, bei dem Adam als Hauptredner aufgetreten war. Der Abend war ungeheuer erfolgreich verlaufen. Mary Beth blieb auf der ganzen Fahrt schweigsam, wie von einer seltsamen Spannung erfaßt. Adam sagte: »Ich glaube, der Abend hat ganz gut geklappt, nicht wahr?«
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