Er wusste nicht, was sie genommen hatte. Er schaute auf die Uhr.
»Hast du es eilig?«, fragte sie. »Die Welt muss wohl mal wieder gerettet werden?«
»Kannst du hier auf mich warten?«, fragte er.
»Verpiss dich«, sagte sie, und ihre Stimme klang heiser und hässlich.
»Warum tust du das?«
»Halt die Klappe.«
»Wirst du auf mich warten? Es dauert nicht lange, und dann können wir zusammen nach Hause gehen. Hast du nicht Lust dazu?«
Sie antwortete ihm nicht, saß mit hängendem Kopf auf dem Bett und starrte zum Fenster hinaus, in die Leere.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
»Nicht gehen«, sagte sie, die Stimme klang nicht mehr so hart. »Warum musst du ewig irgendwohin?«
»Was ist los?«, fragte er.
»Was ist los?!«, schrie sie. »Alles ist los, alles! Dieses Scheißleben, das ist los, dieses Scheißleben. In diesem Leben ist alles los. Ich habe keinen Schimmer, was das alles soll. Ich weiß echt nicht, wozu das alles gut sein soll. Wozu! Wozu?!«
»Eva, das wird schon …«
»Mein Gott, wie ich sie vermisse«, stöhnte sie.
Er nahm sie in die Arme.
»Jeden Tag. Morgens beim Aufwachen und abends beim Einschlafen. Ich muss jeden Tag an sie denken und das, was ich ihr angetan habe.«
»Das ist gut«, sagte Erlendur. »Ja, du musst dich jeden Tag an sie erinnern.«
»Aber es ist so verdammt schwer, und man wird das alles nie los. Nie. Was soll ich bloß machen? Was kann ich da überhaupt machen?«
»Sie nicht vergessen. An sie denken. Immer. Auf diese Weise hilft sie dir.«
»Mein Gott, wie ich das bereue. Was bin ich nur für ein Mensch? Wer tut seinem eigenen Kind so was an?«
»Eva.« Er nahm sie wieder in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn. So saßen sie schweigend auf der Bettkante, während sich der Schnee leise über die Stadt legte.
Sie hatten eine ganze Weile dort gesessen, bis Erlendur ihr zuflüsterte, dass sie hier im Zimmer auf ihn warten solle.
Er wollte mit ihr bei sich zu Hause Weihnachten feiern. Sie schauten einander in die Augen. Sie war ruhiger geworden und nickte zustimmend.
Jetzt stand er eine Etage tiefer in der Zimmertür und beobachtete Ösp bei der Arbeit, konnte seine Gedanken jedoch nicht von Eva lösen. Er wusste, dass er so schnell wie möglich zu ihr zurück- und sie mit nach Hause nehmen musste, um an Weihnachten mit ihr zusammen zu sein.
»Wir haben mit Steffi gesprochen«, sagte er ins Zimmer hinein. »Sie heißt Stefania und ist die Schwester von Guðlaugur.«
Ösp kam aus dem Badezimmer.
»Und was ist, streitet sie alles ab, oder …?«
»Nein, sie streitet nichts ab«, sagte Erlendur. »Sie weiß um ihre Schuld, und sie denkt darüber nach, was schief gelaufen ist, wann es seinen Anfang nahm und weshalb. Ihr geht es nicht gut, aber sie hat angefangen, mit den Dingen ins Reine zu kommen. Das ist sehr schwer für sie, denn es ist zu spät, das, was geschehen ist, wieder gutzumachen.«
»Hat sie gestanden?«
»Ja«, sagte Erlendur. »Das meiste, im Grunde genommen. Sie hat es nicht direkt gestanden, aber sie weiß um ihren Anteil an der Sache.«
»Das meiste? Was bedeutet das?«
Ösp ging an ihm vorbei auf den Gang, holte Putzmittel und Lappen, kehrte dann zurück ins Badezimmer. Erlendur betrat das Zimmer und sah ihr beim Putzen zu, wie er es schon zuvor getan hatte, als die Lösung des Falls noch völlig im Dunkeln lag und sie durch so etwas wie Freundschaft verbunden gewesen waren.
»Eigentlich alles«, sagte er. »Nur nicht den Mord. Das ist das Einzige, was sie nicht auf ihre Kappe nehmen wird.«
Ösp sprühte Glasreiniger auf den Spiegel im Badezimmer und zeigte keinerlei Reaktion.
»Aber mein Bruder hat sie gesehen«, sagte sie. »Er hat gesehen, wie sie auf ihren Bruder eingestochen hat. Das kann sie nicht leugnen. Sie kann nicht leugnen, dass sie da gewesen ist.«
»Nein«, sagte Erlendur. »Sie war unten im Keller, als er starb. Bloß war es nicht sie, die ihn erstochen hat.«
»Doch, Reynir hat es gesehen«, sagte sie. »Sie kann das nicht abstreiten.«
»Wie viel schuldest du ihnen?«
»Schulde was?«
»Wie viel?«
»Schulde ich wem? Worüber redest du eigentlich?«
Ösp bearbeitete den Spiegel, als ginge es um Leben und Tod, als würde die Maske fallen, wenn sie damit aufhören würde, als wäre das gleichbedeutend mit einer Kapitulation. Sie sprühte, rieb und putzte — und vermied es, sich selber im Spiegel in die Augen zu schauen.
Erlendur schaute ihr zu, und ihm fiel ein Satz aus einem Buch über Armenhäusler früherer Zeiten ein: Sie war ein Stiefkind dieser Welt.
»Meine Mitarbeiterin Elinborg hat sich gerade eben deine Kartei bei der Notaufnahme angeschaut«, sagte er. »Bei der Notaufnahme für Vergewaltigungsopfer. Es gibt da vor ungefähr einem halben Jahr einen Eintrag. Es waren drei, in einer Hütte da oben am Rauðavatn. Mehr hast du nicht ausgesagt. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, wer es gewesen ist. Sie haben dich am Freitagabend in der Innenstadt gekidnappt, sind mit dir im Auto zu dieser Hütte gefahren und haben dich einer nach dem anderen vergewaltigt.«
Ösp putzte weiter den Spiegel, ohne ihn anzuschauen.
Erlendur konnte nicht erkennen, ob das, was er sagte, sie irgendwie aus der Fassung brachte.
»Du hast dich geweigert zu sagen, wer sie waren, und du wolltest keine Anzeige gegen sie erstatten.«
Ösp sagte keinen Ton.
»Du hast den Job hier im Hotel, aber das reicht nicht, um deine Schulden abzuzahlen, und ebenso wenig reicht es für deinen täglichen Konsum. Du hast sie mit kleinen Raten auf Distanz halten wollen. Klar, dass du das versucht hast, du kriegst ja auch immer wieder was von ihnen, aber sie haben dir trotzdem gedroht, und du weißt, dass sie sich nicht scheuen, ihre Drohungen wahr zu machen.«
Ösp vermied es, ihn anzusehen.
»Hier im Hotel wird überhaupt nicht gestohlen, nicht wahr?«, sagte Erlendur. »Das hast du nur gesagt, um uns zu täuschen, um den Verdacht in eine andere Richtung zu lenken.«
Erlendur hörte Geräusche auf dem Gang. Elinborg und vier Polizisten erschienen draußen vor der Tür. Er gab ihnen ein Zeichen, zu warten.
»Dein Bruder ist in derselben Lage wie du. Vielleicht habt ihr ja sogar ein gemeinsames Konto bei denen, keine Ahnung. Ihn haben sie genommen und brutal zusammengeschlagen. Er hat auch Drohungen bekommen. Eure Eltern haben Drohungen bekommen. Ihr traut euch nicht, diese Typen anzuzeigen. Die Polizei kann nichts unternehmen, weil es nur Drohungen sind. Und wenn sie euch was tun, wenn sie dich in der Innenstadt kidnappen und dich in einer Hütte am Rauðavatn vergewaltigen, dann weigerst du dich zu sagen, wer es war. Wie dein Bruder.«
Erlendur schwieg eine Weile und beobachtete sie.
»Vorhin hat mich ein Mann angerufen. Er arbeitet bei der Polizei, im Rauschgiftdezernat. Er wird manchmal von Leuten angerufen, die ihm etwas zutragen, wenn sie irgendwas auf der Straße und in der Drogenszene hören. Er bekam spätabends einen Anruf von einem Mann, der berichtete, ihm sei von einem jungen Mädchen erzählt worden, das vor einem halben Jahr vergewaltigt wurde. Sie wäre bisher immer in argen Schwierigkeiten gewesen wegen ihrer Schulden bei den Dealern, bis sie plötzlich vor zwei Tagen die ganzen Schulden mit einem Mal bezahlt hat. Für sich und für ihren Bruder. Kommt dir das bekannt vor?«
Ösp schüttelte den Kopf.
»Du weißt also gar nichts darüber?«, fragte Erlendur noch einmal. »Der Mann, der da im Rauschgiftdezernat angerufen hat, kannte den Namen des Mädchens und wusste, dass sie in dem Hotel arbeitete, wo der Weihnachtsmann ermordet worden ist.«
Noch einmal schüttelte Ösp den Kopf.
»Wir wissen, dass da unten in Guðlaugurs Kammer mindestens eine halbe Million gewesen ist«, sagte Erlendur.
Читать дальше