»Nein, aber man kann sich ja denken, worauf das hinausgelaufen wäre. Ich weiß auch nicht, ob er sich selber darüber völlig im Klaren war, was da mit ihm geschah. Darüber weiß ich gar nichts. Ich glaube nicht, dass er gewusst hat, warum er sich Mamas Kleider anzog. Ich weiß nicht, wie und wann die Leute feststellen, dass sie anders sind.«
»Auf irgendeine seltsame Weise hat er diesen Spitznamen gemocht«, sagte Erlendur. »Er hat das Plakat in seinem Zimmer hängen, und wir wissen, dass …« Erlendur verstummte mitten im Satz. Er wusste nicht, ob er von Guðlaugurs Liebhaber erzählen sollte, der ihn die kleine Prinzessin nennen sollte.
»Darüber weiß ich nichts«, sagte Stefania, »außer natürlich, dass er dieses Plakat da bei sich an der Wand hängen hatte. Vielleicht hat er sich selber auch mit den Erinnerungen an das, was passiert war, gequält. Vielleicht waren sie mit etwas verbunden, was wir nie begreifen werden.«
»Wie hast du Henry Wapshott kennen gelernt?«
»Er kam eines Tages zu uns und wollte mit Papa und mir über Gullis Platten reden. Er wollte wissen, ob wir noch welche besäßen. Das war voriges Jahr zu Weihnachten. Er hatte sich bei irgendwelchen Sammlern Informationen über uns, also Guðlaugur Egilsson und dessen Familie, beschafft, und er hat uns gesagt, dass seine Platten in anderen Ländern großen Wert besäßen. Er hatte mit meinem Bruder gesprochen, der ihm aber nichts verkaufen wollte, bis er plötzlich seine Meinung geändert hat und bereit war, dem Engländer alles zu überlassen, was er haben wollte.«
»Und ihr wolltet euren Anteil an dem Profit, oder was?«
»Wir fanden das nur recht und billig. Die Platten gehörten nicht nur ihm, sondern genauso gut unserem Vater, zumindest waren wir der Meinung. Unser Vater hat diese Platten mit seinem eigenen Geld finanziert.«
»Waren es nennenswerte Summen, die Wapshott euch angeboten hat?«
Stefania nickte abwesend.
»Millionen.«
»Das stimmt mit unseren Informationen überein.«
»Er hat genug Geld, dieser Wapshott. Wenn ich richtig verstanden habe, wollte er die ganze Auflage kaufen, um zu verhindern, dass zu viele Platten auf den Sammlermarkt gelangen. Er hat ganz offen darüber geredet und war bereit, ungeheure Summen für sämtliche Exemplare zu bezahlen. Ich glaube, dass es ihm in diesem Jahr gelungen ist, Guðlaugur auf seine Seite zu ziehen. Wahrscheinlich hat sich daran aber etwas geändert, denn sonst hätte er ihn wohl nicht angegriffen.«
»Ihn angegriffen? Wie meinst du das?«
»Habt ihr ihn denn nicht festgenommen?«
»Ja«, sagte Erlendur, »aber wir haben keine Beweise gegen ihn in der Hand, dass er wirklich der Täter ist. Was meinst du damit, dass sich etwas geändert hat?«
»Wapshott kam zu uns nach Hafnarfjörður und sagte, er hätte Guðlaugur dazu gebracht, ihm die komplette Auflage zu verkaufen, und er wollte sicherstellen, dass es wirklich nicht noch mehr Exemplare gab. Wir sagten ihm, dass das nicht der Fall wäre. Er fragte nach Papa …«
»Hat dich dein Vater dann zu Guðlaugur geschickt?«
»Nein, das hätte er nie getan. Seit dem Unfall durfte sein Name nicht mehr genannt werden.«
»Aber Guðlaugur hat als Erstes nach ihm gefragt, als er dich im Hotel gesehen hat.«
»Ja. Wir gingen hinunter in seine Kammer, und ich fragte ihn, wo die Platten wären.«
» Die sind an einem sicheren Ort «, sagte Guðlaugur und lächelte seine Schwester an. » Henry hat mir gesagt, dass er mit dir gesprochen hat. «
» Er hat uns gesagt, dass du bereit bist, ihm die Platten zu verkaufen. Papa ist der Meinung, dass die Hälfte davon ihm gehört, und deswegen wollen wir die Hälfte von dem Preis, den du dafür bekommst. «
» Ich habe meine Meinung geändert «, sagte Guðlaugur. » Ich werde niemandem was verkaufen. «
» Was hat Wapshott dazu gesagt? «
» Das hat ihm gar nicht gefallen. «
» Er bietet dir gutes Geld dafür an. «
» Ich kann mehr dafür bekommen, wenn ich sie selber einzeln verkaufe. Bei Sammlern besteht großes Interesse daran.
Ich glaube nämlich, dass Wapshott dasselbe vorhat, auch wenn er sagt, er wolle sie nur kaufen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Ich habe den Eindruck, dass er lügt. Er will sie verkaufen und an mir verdienen. An mir wollten früher alle verdienen, nicht zuletzt Papa, und das hat sich kein bisschen geändert. Kein bisschen. «
Sie blickten einander lange an.
» Komm nach Hause und sprich mit Papa «, sagte sie. » Er wird nicht mehr lange leben. «
» Hat Wapshott mit ihm gesprochen? «
» Nein, er war nicht zu Hause, als Wapshott kam. Ich habe Papa von ihm erzählt. «
» Und was hat er dazu gesagt? «
» Nichts. Nur, dass er seinen Anteil haben wollte. «
» Und was ist mit dir? «
» Mit mir? «
» Warum bist du immer bei ihm geblieben? Warum hast du nie geheiratet und eine eigene Familie gegründet? Das ist nicht dein Leben, was du lebst, sondern seins. Wo ist dein Leben? «
» Wahrscheinlich hinter dem Rollstuhl, in den du ihn gebracht hast «, stieß Stefania hervor. » Untersteh dich, nach meinem Leben zu fragen. «
» Er hat dieselbe Macht über dich wie früher über mich. «
Der Zorn stieg in Stefania hoch.
» Irgendjemand musste sich um ihn kümmern. Sein Augenstern, sein Star war ein Schwuler, der ihn die Treppe hinuntergestoßen hat und seitdem nicht gewagt hat, mit ihm zu reden. Sitzt lieber nachts zu Hause bei ihm herum und schleicht sich weg, bevor er aufwacht. Was für eine Macht hat er über dich? Du glaubst, dass du ihn ein für alle Mal losgeworden bist, aber sieh dich an! Sieh dich doch endlich einmal an! Was ist aus dir geworden? Sag mir das! Du bist ein Niemand! Eine verkrachte Existenz! «
Sie verstummte.
» Entschuldige «, sagte er, » ich hätte nicht davon anfangen sollen. «
Sie antwortete ihm nicht.
» Hat er nach mir gefragt? «
» Nein. «
» Spricht er nie über mich? «
» Nein, niemals. «
» Er findet es unerträglich, wie ich lebe. Er findet es unerträglich, wie ich bin. Er findet mich unerträglich. Nach all diesen Jahren. «
»Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«, fragte Erlendur. »Warum dieses Versteckspiel?«
»Versteckspiel? Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich wollte nicht über meine Familienangelegenheiten reden. Ich glaubte, dass ich uns abschirmen könnte, unser Privatleben.«
»Hast du da deinen Bruder zum letzten Mal getroffen?«
»Ja.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja.« Stefania schaute ihn an. »Was willst du damit andeuten?«
»Hast du ihn nicht mit einem Jungen bei der gleichen Beschäftigung erwischt wie damals, als dein Vater die Beherrschung verlor? Damals war das der Beginn deiner Lebensmisere, und dem wolltest du jetzt ein Ende machen.«
»Nein. Was …?«
»Wir haben einen Zeugen.«
»Zeugen?«
»Den Jungen, der bei ihm war. Ein junger Mann, der deinem Bruder gegen Bezahlung gewisse Gefälligkeiten erwiesen hat. Du hast sie in dem Kellerloch überrascht, der Junge hat das Weite gesucht, und du bist auf deinen Bruder losgegangen. Hast ein Messer auf dem Tisch liegen sehen und hast ihn attackiert.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Stefania, die spürte, dass es Erlendur ernst war mit dem, was er gesagt hatte, dass sich der Verdacht jetzt gegen sie richtete. Sie starrte Erlendur an, als traute sie ihren Ohren nicht.
»Es gibt einen Zeugen …«, begann Erlendur, konnte aber den Satz nicht zu Ende bringen.
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