Arnaldur Indridason
Engelsstimme
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Aus HÄLFTE DES LEBENS von Friedrich Hölderlin
Endlich war der Augenblick gekommen. Der Vorhang ging hoch, der Saal lag vor ihm. Es war ein wunderbares Gefühl, von all diesen Leuten angeblickt zu werden, und seine Schüchternheit verflog im Nu. Er sah einige seiner Schulkameraden und Lehrer, und sogar der Rektor war anwesend, der ihm wohlwollend zuzunicken schien. Aber sonst kannte er nur wenige. All diese Leute hatten sich eingefunden, um ihn zu hören, seine schöne Stimme zu hören, die auch im Ausland bereits Aufsehen erregt hatte.
Das Summen im Saal verstummte allmählich, und aller Augen waren in schweigender Erwartung auf ihn gerichtet.
Er sah seinen Vater in der Mitte der ersten Reihe mit übereinander geschlagenen Beinen sitzen, sah seine dicke, schwarze Hornbrille und auf dem Knie den Hut liegen. Er sah, dass er das Opernglas auf ihn gerichtet hatte und ihm aufmunternd zulächelte, das hier war für sie beide die große Stunde in ihrem Leben. Von jetzt an würde nichts mehr so sein wie früher.
Der Chordirigent hob die Hände. Schweigen senkte sich über den Saal.
Und er begann zu singen, mit dieser reinen, schönen Stimme, von der sein Vater sagte, es sei eine Engelsstimme.
Elínborg wartete im Hotel auf sie.
Ein großer Weihnachtsbaum stand im Foyer, und die Halle war mit Tannenzweigen und glitzernden Kugeln weihnachtlich geschmückt. Holder Knabe im lockigen Haar erklang aus einer unsichtbaren Lautsprecheranlage. Große Reisebusse standen vor dem Eingang, und die Menschen strömten in die Rezeption. Ausländer, die Weihnachten und Neujahr in Island verbringen wollten, weil in ihren Augen Island Abenteuer und Spannung versprach.
Sie waren gerade erst gelandet, aber trotzdem hatten sich einige bereits die typischen Islandpullover gekauft. Man trug sich eifrig als Gast in diesem fremden Winterland ein. Erlendur klopfte sich den nassen Schnee vom Mantel.
Sigurður Óli ließ die Blicke über das Foyer schweifen und entdeckte Elinborg bei den Aufzügen. Er stieß Erlendur an, und sie gingen zu ihr hinüber. Sie hatte den Schauplatz bereits in Augenschein genommen. Die Polizisten, die zuerst eingetroffen waren, hatten dafür gesorgt, dass nichts angerührt wurde.
Der Hotelmanager bat händeringend darum, nicht überzureagieren. Das Wort hatte er verwendet, als er anrief. Dies war ein Hotel, und Hotels lebten von ihrer Reputation, und er bat sie, Rücksicht darauf zu nehmen. Deswegen gab es draußen keine Sirenen, und es gab auch keine uniformierten Polizisten, die durch die Halle stürmten und Leute anrempelten. Der Hotelmanager erklärte, dass die Gäste des Hotels unter gar keinen Umständen in irgendeiner Weise beunruhigt werden dürften.
Island durfte nicht zu spannend und abenteuerlich sein.
Jetzt stand der Hotelmanager an der Seite von Elinborg und gab Erlendur und Sigurður Óli die Hand. Der Mann war so fett, dass er kaum in seinen Anzug passte. Das Jackett war über dem Bauch mit einem Knopf zugeknöpft, der sicher nicht mehr lange halten würde. Der Hosenbund verschwand unter dem enormen Bauch, der aus dem Jackett quoll, und der Mann schwitzte so stark, dass er das große, weiße Taschentuch, mit dem er sich in regelmäßigen Abständen Stirn und Nacken abwischte, kaum wegstecken konnte. Der weiße Hemdkragen war schon schweißnass.
Erlendur drückte seine feuchte Hand.
»Vielen Dank«, erklärte der Hotelmanager und blies vor lauter Besorgnis wie ein Wal. Er hatte das Hotel fast zwanzig Jahre lang geleitet, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen.
»Und das mitten im Weihnachtsbetrieb«, stöhnte er. »Ich begreife nicht, wie so etwas passieren kann. Wie kann so etwas passieren?«, wiederholte er, und ihnen entging nicht, dass ihn die Situation völlig überforderte.
»Ist er unten oder oben?«, fragte Erlendur.
»Unten oder oben?«, schnaufte der fette Hotelmanager.
»Meinst du etwa, ob er zum Himmel gefahren ist?«
»Tja«, sagte Erlendur. »Das müssen wir wohl unbedingt in Erfahrung bringen.«
»Nehmen wir den Aufzug nach oben?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein«, erwiderte der Hotelmanager, der sich auf den Arm genommen fühlte und Erlendur anstarrte. »Er ist hier unten im Keller. Hat da ein kleines Zimmer. Wir haben ihn nicht rauswerfen mögen. Und das ist dann der Dank dafür.«
»Warum wolltet ihr ihn denn rauswerfen?«, fragte Elinborg.
Der Hotelmanager sah sie an, ohne zu antworten.
Sie begaben sich langsam auf der Treppe neben dem Aufzug nach unten. Der Hotelmanager ging voran. Sogar treppabwärts waren die Stufen eine Anstrengung für ihn, und Erlendur überlegte, wie er da wohl wieder hochkommen würde.
Sie hatten sich damit einverstanden erklärt, möglichst rücksichtsvoll vorzugehen, nur Erlendur hatte nichts gesagt. Sie wollten wenigstens versuchen, so diskret wie möglich zu arbeiten. Drei Polizeiautos und ein Krankenwagen standen hinter dem Hotel. Polizei und Krankenwagenbesatzung waren zum Hintereingang hereingekommen. Der Amtsarzt war unterwegs. Er würde den Totenschein ausstellen und den Leichenwagen anfordern.
Sie gingen einen langen Gang entlang, Schritt für Schritt hinter dem schnaufenden Wal her. Uniformierte Polizisten grüßten sie. Je weiter sie nach hinten kamen, desto dunkler wurde der Gang, weil die Birnen an der Decke den Geist aufgegeben hatten und sich offenbar niemand die Mühe gemacht hatte, sie auszuwechseln. Schließlich kamen sie in der Finsternis an eine Tür, die halb offen stand und den Blick in einen kleinen Raum freigab. Der glich eher einer Abstellkammer als einer menschlichen Behausung, aber enthielt immerhin ein schmales Bett und einen kleinen Schreibtisch. Auf den dreckigen Fliesen lag ein abgewetzter Bettvorleger, oben, knapp unterhalb der Decke, war ein kleines Fenster.
Der Mann saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Bett. Er trug ein knallrotes Weihnachtsmannkostüm mit entsprechender Mütze, die ihm ins Gesicht gerutscht war.
Der weiße Weihnachtsmann-Rauschebart verdeckte den Rest des Gesichts. Die Schnalle des breiten Gürtels war über dem Bauch gelöst worden, und die Jacke war aufgeknöpft. Darunter trug er nichts weiter als ein weißes Unterhemd. Über dem Herzen war eine tödliche Stichwunde. Am Bauch waren noch weitere Verletzungen, aber der Stich ins Herz war der tödliche gewesen. Seine Hände wiesen ebenfalls Stichwunden auf, als hätte er versucht, den Angriff abzuwehren.
Die Hosen waren heruntergelassen. An seinem Glied hing ein Kondom.
»Morgen kommt der Weihnachtsmann«, trällerte Sigurður Óli und schaute auf die Leiche hinunter.
Elinborg brachte ihn mit einem »Psst« zum Schweigen.
Im Zimmer gab es noch einen kleinen Kleiderschrank. Der stand offen, und man sah zusammengefaltete Hosen und Pullover, gebügelte Hemden und Socken. Die Livree hing auf einem Bügel, dunkelblau mit goldenen Epauletten und glänzenden Messingknöpfen. Neben dem Schrank standen blank geputzte Lederschuhe.
Zeitungen und Zeitschriften stapelten sich auf dem Fußboden. Neben dem schmalen Bett stand ein Nachttisch mit einer Lampe. Auf dem Nachttisch lag ein Buch: A History of the Vienna Boys’ Choir.
»Hat dieser Mann hier gewohnt?«, fragte Erlendur und blickte sich um. Elinborg und er hatten sich in das Zimmer hineingezwängt, Sigurður Óli und der Hotelmanager standen draußen. Für alle war drinnen kein Platz.
»Wir haben ihm gestattet, sich hier einzurichten«, sagte der Hotelmanager verlegen und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Er arbeitete schon seit langem bei uns, war schon da, als ich kam. Er war Portier.«
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