»Was für einen Zeugen, über welchen Zeugen redest du eigentlich?«
»Leugnest du, deinen Bruder getötet zu haben?«
Das Zimmertelefon klingelte, und noch bevor Erlendur abheben konnte, begann sein Handy in der Jackentasche ebenfalls zu klingeln. Er entschuldigte sich bei Stefania, die ihm einen Blick zuwarf.
»Ich muss das Gespräch entgegennehmen.«
Stefania wandte sich ab, und er sah, wie sie eine von Guðlaugurs Platten aus der Hülle nahm. Während Erlendur den Hörer des Zimmertelefons abnahm, betrachtete sie die Platte. Sigurður Óli war in der Leitung. Erlendur nahm das Gespräch auf dem Handy entgegen und bat um einen Augenblick Geduld.
»Mich hat da ein Mann wegen des Mordes im Hotel angerufen, und ich habe ihm deine Handynummer gegeben«, sagte Sigurður Óli. »Hat er dich schon erreicht?«
»Da ist jemand bei mir auf dem Handy«, sagte Erlendur.
»Meines Erachtens haben wir den Fall geklärt. Sprich mit ihm, und dann melde dich wieder. Ich schicke drei Wagen hin, Elinborg wird mitkommen.«
Erlendur legte auf und griff wieder nach dem Handy. Er kannte die Stimme nicht, aber der Mann stellte sich vor und begann dann zu erzählen. Kaum hatte er angefangen, wurde Erlendurs Verdacht bestätigt, und er begriff die ganzen Zusammenhänge. Sie sprachen eine ganze Zeit miteinander, und am Ende des Gesprächs bat Erlendur den Mann, ins Dezernat zu kommen und alles zu Protokoll zu geben. Dann rief er Elinborg an und gab ihr Anweisungen.
Er stellte das Handy ab und wandte sich wieder Stefania zu, die Guðlaugurs Platte aufgelegt hatte.
»Manchmal waren früher«, sagte sie, »wenn diese Platten aufgenommen wurden, gewisse Nebengeräusche zu hören, weil man nicht sonderlich sorgfältig arbeitete. Die Aufnahmetechnik war noch nicht so gut und auch nicht die Studios. Man kann sogar den Straßenverkehr hören. Wusstest du das?«
»Nein«, sagte Erlendur und hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte.
»Das kann man beispielsweise bei dieser Platte hören, wenn man darauf achtet. Ich glaube aber, dass nur die das bemerken, die davon wissen.«
Sie stellte den Apparat lauter. Erlendur lauschte konzentriert, und mitten im Lied hörte er ein anderes Geräusch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist Papa«, sagte Stefania.
Sie spielte die Passage wieder, und jetzt hörte Erlendur das Nebengeräusch deutlich, ohne zu wissen, was es war.
»Ist das euer Vater?«, fragte Erlendur.
»Er sagt ihm, dass er eine Engelsstimme hat«, sagte Stefania und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. »Er stand in der Nähe des Mikrofons und konnte sich nicht zurückhalten.«
Sie schaute Erlendur an.
»Mein Vater ist gestern Abend gestorben«, sagte sie. »Er hatte sich nach dem Abendessen etwas auf dem Sofa hingelegt und schlief ein, und aus diesem Schlummer ist er nicht mehr erwacht. Als ich ins Wohnzimmer kam, habe ich sofort gewusst, dass er tot war. Ich habe es gespürt, bevor ich ihn berührt habe. Der Arzt sagt, es war ein Herzinfarkt. Deswegen bin ich hier zu dir ins Hotel gekommen, um reinen Tisch zu machen. Das alles spielt keine Rolle mehr. Nicht für ihn, und auch nicht mehr für mich. Nichts von alledem spielt noch eine Rolle.«
Sie spielte den kleinen Ausschnitt ein drittes Mal, und jetzt glaubte Erlendur zu hören, was dort gesagt wurde, nur ein Wort, das wie eine Fußnote zu dem Gesang war.
Engelsstimme.
»Ich bin an dem Tag, als er ermordet wurde, hier unten zu ihm in den Keller gegangen, um ihm zu sagen, dass Papa ihn sehen und sich mit ihm versöhnen wollte. Ich hatte ihm nämlich gesagt, dass Gulli den Schlüssel zu unserem Haus aufbewahrt hatte und sich manchmal heimlich ins Haus geschlichen und im Wohnzimmer gesessen hatte, ohne dass wir ihn bemerkten. Ich wusste nicht, wie Gulli darauf reagieren würde, ob er Papa treffen wollte, oder ob es hoffnungslos wäre, sie auszusöhnen, aber ich wollte es versuchen. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen …«
Ihre Stimme zitterte.
»… und dort lag er in seinem Blut …«
Sie blieb eine Weile stumm.
»… in diesem Kostüm … die Hosen heruntergelassen … alles voller Blut …«
Erlendur ging zu ihr hin.
»Mein Gott«, stöhnte sie, »nie in meinem Leben habe ich … das war entsetzlicher, als Worte es ausdrücken können. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Ich hatte solche Angst. Ich glaube, ich habe nur an eins gedacht, so schnell wie möglich wegzukommen und zu versuchen, das alles zu vergessen. Wie alles andere. Ich habe mir einzureden versucht, dass mich das nichts anginge. Dass es egal war, ob ich dort war oder nicht, das war alles passiert und ging mich nichts mehr an. Ich habe das wie ein Kind von mir fern zu halten versucht. Ich wollte nichts davon wissen und habe meinem Vater nicht gesagt, was ich gesehen hatte. Ich habe niemandem etwas davon gesagt.«
Sie schaute Erlendur an.
»Ich hätte um Hilfe rufen sollen. Ich hätte natürlich die Polizei rufen sollen … aber … das war so ekelhaft, so pervers … dass ich einfach weggelaufen bin. Das war das Einzige, woran ich denken konnte. Bloß weg von hier. Von diesem Ort des Grauens zu fliehen und von niemandem gesehen zu werden.«
Sie schwieg eine Weile.
»Ich glaube, dass ich immer vor ihm geflohen bin. Irgendwie immer vor ihm weggelaufen bin. Die ganze Zeit. Und dort …«
Sie weinte leise vor sich hin.
»Wir hätten schon vor langer Zeit versuchen können, das Ganze ins Reine zu bringen. Ich hätte das schon längst getan haben sollen. Darin besteht mein Versagen. Papa wollte es zum Schluss auch, bevor er starb.«
Sie schwiegen. Erlendur schaute zum Fenster hinaus und bemerkte, dass das Schneetreiben nachgelassen hatte.
»Das Entsetzlichste war …«
Sie verstummte, weil die Vorstellung sie überwältigte.
»Er war noch nicht tot, war es das?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er sagte ein Wort, und dann starb er. Er sah mich in der Tür und brachte unter Stöhnen meinen Namen heraus. So wie er mich immer genannt hat, als wir klein waren. Er hat mich immer Steffi genannt.«
»Und die beiden haben gehört, wie er deinen Namen sagte, bevor er starb. Steffi.«
Sie blickte Erlendur verwundert an.
»Welche beiden?«
Plötzlich wurde die Zimmertür aufgestoßen, und Eva Lind erschien. Sie starrte von Stefania zu Erlendur und dann wieder auf Stefania und schüttelte den Kopf.
»Wie viele hast du eigentlich gleichzeitig?«, fragte sie und warf ihrem Vater vorwurfsvolle Blicke zu.
Ösps Verhalten hatte sich nach außen hin in keinerlei Weise verändert. Erlendur stand da und schaute ihr wieder einmal bei der Arbeit zu. Erlendur fragte sich, ob sie irgendwann Reue oder Anzeichen von Gewissensbissen zeigen würde.
»Hast du diese Steffi gefunden?«, fragte sie, als sie ihn im Gang stehen sah. Sie warf einen Haufen Handtücher in den Korb mit der schmutzigen Wäsche, nahm sich ein paar neue und ging damit ins Zimmer. Erlendur trat näher und blieb gedankenverloren in der Tür stehen.
Er dachte an seine Tochter. Es war ihm gelungen, ihr klar zu machen, wer Stefania war. Als Stefania gegangen war, hatte er Eva Lind gebeten, auf ihn zu warten. Es würde nicht lange dauern, dann würden sie zusammen nach Hause gehen. Eva setzte sich auf das Bett, und er sah sofort, dass sie erschöpft war, spürte gleich, dass sie nachgegeben hatte. Sie war gereizt und hektisch und gab ihm die Schuld für alles, was in ihrem Leben schief gelaufen war.
Er stand da und hörte zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne ihr zu widersprechen, damit hätte er ihre Wut nur noch mehr geschürt. Er wusste, warum sie wütend war. Sie war nicht wütend auf ihn, sondern auf sich selbst, weil sie den Kampf aufgegeben hatte. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten.
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