«So, jetzt haben wir es!», sagte er triumphierend. «Lesen Sie das. Kommt von der südafrikanischen Polizei.»
Das Kabel lautete:
Ebenezer Farrs Sohn vor zwei Jahren gestorben.
«Nun wissen wir es!», grinste Sugden. «Komisch! Ich habe eine ganz andere Spur verfolgt!»
Pilar trat hochaufgerichtet ins Wohnzimmer. Sie ging direkt auf Lydia zu, die strickend am Fenster saß.
«Lydia, ich möchte dir sagen, dass ich das Geld nicht annehmen werde. Und dass ich fortgehe – sofort…»
Lydia sah sie erstaunt an. Sie ließ ihre Strickerei in den Schoß fallen. «Mein liebes Kind, Alfred muss dir die Sache ungeschickt erklärt haben! Es handelt sich hier keineswegs um eine Mildtätigkeit, wenn du dir das vielleicht einbildest. Wir sind weder großzügig noch liebenswürdig, sondern kommen einfach einer als gerecht empfundenen Verpflichtung nach. Unter normalen Umständen hätte deine Mutter dieses Geld geerbt und es voraussichtlich dir vermacht. Also steht dir diese Erbschaft zu - sie ist weder ein Gnadengeschenk noch ein Opfer unsererseits, sondern dein Recht!»
«Und gerade darum kann ich sie nicht annehmen», schrie Pilar verzweifelt auf, «nicht, wenn du so mit mir sprichst! Nicht, wenn ihr alle so zu mir seid! Ich bin gerne gekommen. Es war lustig. Es war ein Abenteuer, aber jetzt habt ihr es mir verdorben! Ich will fort von hier – und ihr werdet euch nie wieder um mich zu kümmern haben…»
Tränen erstickten ihre Stimme. Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Lydia sah ihr hilflos nach.
«Was um Himmels willen kann sie so aufgeregt haben?»
George räusperte sich bedeutungsvoll und verkündete dann wichtigtuerisch: «Wie ich heute Morgen bereits bemerkte - hm –, geht ihr von ganz falschen Voraussetzungen aus. Pilar ist gescheit genug, das einzusehen. Sie lehnt euer Almosen ab – »
«Es ist kein Almosen», fuhr Lydia ihn an. «Es ist ihr Recht!»
Inspektor Sugden und Poirot betraten den Raum. Sugden sah sich um und fragte dann sofort: «Wo ist Mr Farr? Ich muss ihn sprechen!»
Doch noch ehe jemand antworten konnte, fuhr Poirot dazwischen: «Wo ist Señorita Estravados?»
«Sie packt ihre Koffer, jedenfalls hatte sie das vor. Anscheinend hat sie bereits genug von ihren englischen Verwandten.» George Lee konnte seine schadenfrohe Genugtuung nur schwer verbergen. Poirot fuhr herum.
«Kommen Sie!», rief er Sugden zu.
Kaum waren die beiden Männer in die Halle hinausgetreten, als ein schweres Poltern und ein Schrei ertönten.
«Schnell! Kommen Sie!» Poirot lief durch die Halle und keuchte die hintere Treppe hinauf. Die Tür zu Pilars Zimmer war weit offen, und ein Mann stand auf der Schwelle. Er wandte den Kopf nach den beiden Männern um. Es war Stephen Farr.
«Sie lebt», sagte er nur.
Pilar stand an die Wand ihres Zimmers gelehnt und starrte die große steinerne Kugel an, die auf dem Boden vor ihr lag.
«Das war auf meiner Zimmertür», erzählte sie atemlos, «so platziert, dass es im Gleichgewicht blieb. Der Stein wäre auf meinen Kopf gefallen, wenn ich normal eingetreten wäre. Aber mein Rock hakte sich an einem Nagel fest, und das hielt mich ein wenig zurück.»
Poirot kniete nieder und untersuchte den Nagel, an dem ein Stückchen roter Wollstoff geblieben war. Er blickte auf und nickte vielsagend.
«Dieser Nagel, Mademoiselle, hat Ihnen das Leben gerettet.» Der Inspektor sah ihn fassungslos an.
«Hören Sie, was soll das alles bedeuten?»
«Jemand hat versucht, mich umzubringen», sagte Pilar.
«Eine Falle», stellte Sugden fest, nachdem er die Tür lange und aufmerksam betrachtet hatte, «eine ganz gewöhnliche Falle! – Das ist nun schon der zweite Mord, der in diesem Hause geplant wurde! Aber diesmal ist er nicht geglückt.»
Pilar warf fast flehend die Hände empor.
«Madre de Dios!», rief sie. «Warum sollte mich jemand töten wollen? Was habe ich denn Böses getan?»
«Vielleicht sollten Sie sich eher fragen: Was weiß ich denn?», entgegnete Poirot vielsagend.
«Wissen? Ich weiß nichts.» Sie sah ihn groß an.
«In diesem Punkt irren Sie, Mademoiselle. Sagen Sie mir jetzt, wo Sie zur Zeit des Mordes waren. Sie waren nicht in diesem Zimmer.»
«Doch! Das habe ich Ihnen doch gesagt.»
«Gewiss, aber da sagten Sie nicht die Wahrheit. Sie erzählten uns, dass Sie Ihren Großvater schreien hörten, nicht wahr?» Sugdens Stimme klang trügerisch sanft. «Nun, Sie können den Schrei nicht gehört haben, wenn Sie hier drinnen gewesen sind. Das haben Mr Poirot und ich gestern ausprobiert!»
«Sie müssen also dem Zimmer Ihres Großvaters näher gewesen sein», riss Poirot das Gespräch wieder an sich. «Soll ich Ihnen sagen, wo ich mir denke, dass Sie gewesen sein könnten? Sie standen in der Nische bei den Statuen, Mademoiselle!»
Pilar hielt den Atem an vor Staunen.
«Woher wissen Sie das?»
Poirot lächelte verstohlen. «Mr Farr hat Sie dort gesehen.»
«Das ist nicht wahr!», fuhr Farr auf. «Das ist eine faule Lüge!»
«Verzeihen Sie, Mr Farr, aber Sie haben Miss Pilar dort gesehen», sagte Poirot ruhig. «Erinnern Sie sich, dass Sie den Eindruck hatten, es stünden drei Statuen in jener Nische - nicht nur zwei? Nur eine der Damen trug am Mordabend ein weißes Kleid: Mademoiselle Estravados. Sie war die dritte Figur, die Sie sahen. Das stimmt doch, Mademoiselle?»
Pilar zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: «Ja, das ist wahr.»
Poirot sah sie freundlich an.
«Sagen Sie uns nun die ganze Wahrheit, bitte! Warum standen Sie in der Nische?»
«Ich war nach dem Abendessen aus dem Speisezimmer gekommen und wollte meinem Großvater einen Besuch machen. Ich dachte, es freue ihn vielleicht. Aber als ich in den Korridor einbog, sah ich jemanden an seiner Tür stehen. Ich wollte nicht gesehen werden, weil ich genau wusste, dass Großvater sich für jenen Abend Besuche verbeten hatte. Deshalb schlüpfte ich in die Nische, für den Fall, dass die Person an der Tür sich umdrehen sollte.»
Sie rang die Hände. «Dann hörte ich plötzlich den entsetzlichen Lärm – umfallende Tische und Stühle, splitterndes Glas – alles schien umzustürzen. Ich bewegte mich nicht. Ich hatte Angst. Und dann ertönte der grauenhafte Schrei –» Sie bekreuzigte sich. «Mein Herz blieb stehen. ›Jemand ist tot!‹, sagte ich zu mir selber.»
«Weiter?»
«Dann kamen alle die Treppe heraufgerannt, an mir vorbei, durch den Korridor, und ich schloss mich den Leuten an.»
«Warum haben Sie uns von alldem nichts gesagt, als wir Sie das erste Mal verhörten?», fragte Sugden bissig.
Pilar wiegte den Kopf hin und her. Altklug und überlegen antwortete sie: «Der Polizei soll man nicht zu viel sagen. Sehen Sie, ich nahm an, Sie würden mich verdächtigen, Großvater umgebracht zu haben, wenn ich zugeben würde, dass ich mich so nahe bei seinem Zimmer befand.»
«Wenn Sie leichthin Lügen erzählen, dann wird man Sie erst recht verdächtigen», schimpfte Sugden.
«Pilar!» Stephen Farr sah das Mädchen beschwörend an. «Wen haben Sie an der Tür des alten Herrn stehen sehen? Wen? Sagen Sie uns das!»
«Jawohl, sagen Sie uns das!», befahl Sugden.
Pilar stockte. Ihre Augen öffneten sich weit und verengten sich wieder. «Ich weiß nicht, wer es war», murmelte sie langsam, «aber es war eine Frau.»
Inspektor Sugden sah sich in dem Kreis um. Mit einer ihm sonst ganz fremden Erregung sagte er:
«Das widerspricht allen Regeln und Vorschriften, Mr Poirot!»
«Ich weiß, Inspektor», wandte Poirot begütigend ein. «Aber sehen Sie, ich möchte mein erworbenes Wissen mit allen hier Anwesenden teilen. Dann werde ich sie alle um ihre Mitarbeit bitten, und so werden wir die Wahrheit herausbekommen.»
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