Er sah eine Weile nachdenklich vor sich hin.
«Wir müssen, wie ich schon einmal sagte, auf den Charakter von Simeon Lee zurückkommen…»
Es entstand eine Stille. Alle Empörung, der erregte Widerspruch und der glimmende Hass schienen sich wundersamerweise gelegt zu haben. Aller Augen waren gespannt auf Poirot gerichtet, als er zu sprechen begann.
«Darin liegt der Schlüssel zu diesem ganzen Geheimnis. Wir müssen uns tief in Simeon Lees Fühlen und Denken vergraben und sehen, was wir dort finden. Denn ein Mensch lebt und stirbt nicht unabhängig von seiner Umgebung. Was in ihm liegt, gibt er denen weiter, die nach ihm kommen…
Was hatte nun Simeon Lee seinen Söhnen und Töchtern zu vererben? Stolz, zum Beispiel – jenen Stolz, in welchem er selber sich getroffen fühlte, weil seine Kinder ihn enttäuschten. Ferner Geduld – ein waches Wartenkönnen. Wir haben erfahren, dass Simeon Lee oft jahrelang geduldig wartete, ehe er sich für ein Unrecht rächte. Diesen Charakterzug hat derjenige seiner Söhne in hohem Maße geerbt, der ihm äußerlich am wenigsten zu gleichen scheint. David Lee konnte jahrelang nicht vergessen und Hass in seinem Herzen nähren. Rein äußerlich gleicht Harry Lee seinem Vater am meisten. Das fällt einem besonders dann auf, wenn man ein Bild von Simeon Lee aus seinen jungen Jahren betrachtet: die gleiche schmale Nase, das gleiche scharfe Profil und die gleiche Art, den Kopf hoch zu tragen. Und noch andere äußere Eigentümlichkeiten mag Harry von seinem Vater geerbt haben. So zum Beispiel die Art, wie er sich manchmal mit dem Zeigefinger übers Kinn fährt und wie er beim Lachen den Kopf zurückwirft.
Nachdem ich all diese Dinge beobachtet hatte und von der Überzeugung ausgehend, dass dieser Mord von jemandem begangen wurde, der mit dem alten Herrn in enger Verbindung stand, begann ich die einzelnen Familienmitglieder vom psychologischen Standpunkt aus zu studieren. Das heißt, ich versuchte herauszufinden, wer von ihnen nach psychologischen Gesichtspunkten ein Verbrecher sein könnte. Und wie ich die Dinge beurteilte, traf das nur auf zwei Personen zu, nämlich auf Alfred Lee und Hilda Lee. David schloss ich als möglichen Täter aus. Ich glaube nicht, dass ein Mensch von seiner überempfindsamen Veranlagung diesen grausigen, blutigen Mord hätte verüben können. Auch George Lee und seine Frau schloss ich von vornherein aus. Was immer sie sich wünschen mögen – sie hätten nicht den Mut, ein Risiko auf sich zu nehmen, dazu sind sie beide zu vorsichtig. Mrs Lydia Lee ist meiner Ansicht nach unfähig, gewalttätig zu werden. Davor bewahrt sie ihre ironische Art. Bezüglich Harry Lee war ich erst unsicher. Seine äußere Erscheinung lässt wohl auf eine ungebändigte, wilde Kraft schließen, und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Kraftmeiertum eigentlich Fassade sei und Harry Lee im Grunde genommen ein Schwächling. Das war übrigens, wie ich hörte, auch die Ansicht seines Vaters, der von ihm sagte, Harry sei auch nicht mehr wert als seine übrigen Kinder.
Somit blieben mir also nur die beiden erwähnten Namen. Alfred Lee ist ein Mensch, der großer Hingabe und Selbstlosigkeit fähig ist. Er hatte sich viele Jahre lang immer dem Willen eines anderen beugen müssen. Solche fortgesetzte Unterdrückung kann sehr leicht zu einem Ausbruch führen. Außerdem mochte Alfred im Laufe dieser vielen Jahre manchen geheimen Groll gegen seinen Vater in sich verschlossen haben, obwohl er nie etwas davon sagte. Gerade die ruhigsten und sanftesten Menschen sind oft einer plötzlichen und unerwarteten Heftigkeit fähig, aus dem einfachen Grund, weil, wenn einmal etwas in ihnen einschnappt, es ganz und unwiderruflich einschnappt! Die andere Person, die in meinen Augen möglicherweise die Tat begangen haben konnte, war Hilda Lee. Sie ist der Typ, der gewohnt ist, ruhig abzuwägen, aber unter Umständen auch zu richten und zu strafen – wenn auch ganz gewiss nie aus selbstsüchtigen Beweggründen. Im Alten Testament finden wir zum Beispiel Jael und Judith.
Nach all diesen Überlegungen ging ich daran, die genauen Umstände des Verbrechens zu überprüfen, die äußerst ungewöhnlichen Umstände, unter welchen dieser Mord begangen wurde. Bitte, versetzen Sie sich wieder zurück in das Zimmer, in dem Simeon Lee tot auf dem Boden lag. Wenn Sie sich erinnern, dann lagen ein schwerer Tisch und ein ebenso schwerer Stuhl umgestürzt da, eine Lampe, Fayencen, Gläser usw. waren zersplittert. Aber Tisch und Stuhl waren besonders merkwürdig. Es waren massive Mahagonimöbel. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie ein Streit zwischen dem gebrechlichen alten Herrn und seinem Gegner dazu geführt haben sollte, solche schwere Möbel über den Haufen zu werfen. Die ganze Sache kam mir unwirklich vor. Andererseits hätte niemand, der klar bei Sinnen war, dieses Durcheinander absichtlich arrangiert – es wäre denn, dass Simeon Lee von einem starken Mann getötet worden war und diese Zerstörungen vortäuschen sollten, dass der Angreifer körperlich schwach oder eine Frau gewesen sei.
Aber diese Vorstellung vermochte mich nicht zu überzeugen. Denn der Lärm der umstürzenden Möbel musste im Haus gehört werden, wie ein Alarm wirken und dem Täter kaum mehr Zeit lassen, das Zimmer ungesehen zu verlassen. Es konnte doch nur im Interesse des Mörders liegen, Simeon Lee die Kehle so lautlos wie nur möglich durchzuschneiden.
Ein weiterer unklarer Punkt war, dass der Schlüssel im Schloss umgedreht worden war. Auch das kam mir vollkommen überflüssig vor. Einen Selbstmord konnte man damit nicht gut vortäuschen wollen, denn nichts an diesem Tod ließ an einen Selbstmord glauben. Auch eine Flucht durch das Fenster konnte nicht glaubhaft gemacht werden, weil die Fenster alle geschlossen oder fixiert waren, so dass eine Flucht ganz unmöglich war. Und auch hierfür hätte der Mörder Zeit gebraucht! Und noch etwas war unbegreiflich: ein kleines Stück Gummi und ein kleiner Holznagel, die Inspektor Sugden mir zeigte. Der Gummi stammt von einer Toilettentasche Simeon Lees. Diese beiden Gegenstände wurden von einer Person vom Boden des Mordzimmers aufgehoben, die als eine der ersten den Raum betrat. Auch hier gilt wieder, was ich schon sagte: sinnlos! Nichts hatte irgendeine klare Bedeutung. Und trotzdem waren diese Dinge am Tatort gefunden worden. Dieses Verbrechen wurde immer undurchdringlicher. Es lag keine Methode darin, keine Ordnung – enfin, es war vollkommen unbegreiflich.
Und schon tauchte eine neue Schwierigkeit auf: Der alte Herr hatte Inspektor Sugden zu sich kommen lassen, um ihm einen Diebstahl zu melden. Dann hatte er ihn gebeten, in eineinhalb Stunden zurückzukommen. Warum? Warum? Wenn Simeon Lee jemanden seiner Familie verdächtigte, warum bat er dann Inspektor Sugden nicht, in der Halle unten zu warten, während er selber den Verdächtigen seine Vorhaltungen, machte? Die Anwesenheit eines Polizeibeamten im Haus hätte doch den Schuldigen bestimmt eingeschüchtert. Und das war der Augenblick, wo mir nicht nur das Verhalten des Mörders, sondern auch dasjenige des Opfers unverständlich wurde!
Und da sagte ich mir, dass wir die Dinge von einem ganz falschen Standpunkt aus betrachteten, und zwar genau von dem Standpunkt aus, den der Mörder uns suggerieren will!
Drei Sachen ergeben keinen Sinn: der Kampf, der im Schloss umgedrehte Schlüssel und das Stückchen Gummi. Und ich machte mich daran, alles andere zu vergessen und nur diese drei Fragen, unabhängig von allem anderen, eingehend zu studieren. Ein Kampf. Was bedeutet das? Gewaltanwendung, Lärm, Krachen und Splittern. Der Schlüssel? Warum dreht man einen Schlüssel um? Damit niemand einen Raum betreten kann. Aber schließlich konnte die Tür ja aufgebrochen werden. Um jemanden einzusperren? Um jemanden auszusperren? Ein Stückchen Gummi aus einer Toilettentasche? Nein, das ist eben ein Stückchen Gummi, weiter nichts.
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