«Affentheater!», brummte Sugden vor sich hin. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
«Vor allen Dingen haben Sie, glaube ich, Mr Farr eine Frage zu stellen, nein?», fuhr Poirot ungerührt fort.
Sugdens Mund wurde hart.
«Ich hätte mir dazu einen etwas weniger offiziellen Augenblick ausgesucht», sagte er sarkastisch. «Aber wie Sie wollen.» Er reichte Stephen Farr das Telegramm. «Nun, Mr Farr – oder wie Sie sonst heißen mögen! –, können Sie uns das erklären?»
Stephen Farr hob die Augenbrauen und las die Meldung laut vor. Dann händigte er dem Inspektor das Papier wieder aus. «Ja, ziemlich scheußlich, nicht wahr?»
«Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?»
«Lassen Sie nur, Inspektor, ich weiß, dass Sie auf eine Erklärung brennen. Sie sollen sie haben. Mag sie noch so fadenscheinig klingen – es ist die Wahrheit. Ich bin nicht Ebenezer Farrs Sohn, aber ich kannte Vater und Sohn Farr sehr gut. Versuchen Sie jetzt einmal, sich in meine Lage zu versetzen. (Ich heiße übrigens Stephen Grant.) Ich kam zum ersten Mal in meinem Leben in dieses Land und war enttäuscht. Dinge und Menschen kamen mir entsetzlich grau und leblos vor. Und plötzlich tauchte in einem Zug ein Mädchen auf, in das ich mich buchstäblich auf den ersten Blick verliebte. Sie war das reizendste und liebenswerteste Geschöpf der Welt. Wir sprachen miteinander, und immer mehr festigte sich mein Entschluss, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Zufällig sah ich die Adresse auf ihrem Koffer. Ihr Name war mir fremd, aber ihr Reiseziel nicht. Ich hatte viel von Gorston Hall gehört und wusste alles von seinem Besitzer. Der alte Simeon Lee war Eb Farrs ehemaliger Geschäftspartner, und Eb hatte mir oft erzählt, eine wie faszinierende Persönlichkeit er gewesen sei.
Nun, und da hatte ich die Idee, nach Gorston Hall zu fahren und dort vorzugeben, Ebenezer Farrs Sohn zu sein. Dieser ist, wie das Telegramm richtig feststellt, vor zwei Jahren gestorben; aber ich erinnerte mich, dass Eb mir erzählt hatte, er habe seit vielen Jahren nichts mehr von Simeon Lee gehört, und daraus schloss ich, dass vermutlich auch der alte Simeon Lee nichts vom Tod von Ebs Sohn wissen werde. Jedenfalls wollte ich es versuchen.»
«Doch Sie wagten den Versuch nicht sofort», fiel Sugden hier ein. «Zuerst wohnten Sie zwei Tage lang im Gasthaus in Addlesfield.»
«Ja, weil ich mir die Sache noch überlegen wollte. Aber schließlich war ich dazu entschlossen. Es kam mir vor wie ein Abenteuer. Nun, und dann glückte die Sache ja großartig! Der alte Herr hieß mich herzlich willkommen und lud mich in sein Haus ein. Ich nahm seine Einladung an. Das, Herr Inspektor, ist meine Erklärung. Wenn sie Ihnen missfällt, dann denken Sie bitte eine Sekunde an die Zeit zurück, da Sie selber verliebt waren, und sagen Sie mir ehrlich, ob Sie damals nicht auch manchen Unsinn machten. Ich heiße, wie ich Ihnen schon sagte, Stephen Grant. Sie können nach Südafrika telegrafieren und meine Angaben überprüfen lassen. Jedenfalls versichere ich Ihnen, dass ich weder ein Mörder noch ein Juwelendieb bin, sondern ein achtbarer Bürger.»
«Daran habe ich nie gezweifelt», sagte Poirot leise.
Inspektor Sugden strich sich nachdenklich übers Kinn. «Ich werde Ihre Aussage selbstverständlich überprüfen müssen», sagte er vorsichtig. «Was ich noch wissen möchte, ist dies: Warum haben Sie, nachdem der Mord geschehen war, nicht sofort geredet, sondern uns noch weiterhin einen Haufen Lügen erzählt?»
Stephens Antwort war entwaffnend.
«Weil ich ein Idiot war! Weil ich wirklich glaubte, ich könnte diese Fiktion aufrechterhalten! Und dann fürchtete ich, dass gerade in jenem Augenblick mein Eingeständnis, unter falschem Namen hier zu sein, sich äußerst verdächtig ausgenommen hätte. Wenn ich nicht vollkommen verblödet gewesen wäre, hätte ich mir ja sagen müssen, dass Sie wahrscheinlich in Johannesburg meine Personalien prüfen lassen würden.»
«Also, Mr Farr – Mr Grant! –, ich sage nicht, dass ich Ihre Erzählung nicht glaube», sagte Sugden. «Sie wird bald genug bestätigt oder widerlegt werden.»
Er sah Poirot fragend an. Und Poirot sah Pilar an.
«Ich vermute, dass auch Mademoiselle Estravados uns etwas zu sagen hat.»
Pilar war sehr blass geworden. Atemlos stieß sie hervor:
«Ja. Ich hätte nie davon gesprochen, wenn nicht Lydias und des Geldes wegen. Herzukommen und Theater zu spielen, zu lügen und zu schwindeln – das war lustig! Aber als dann Lydia sagte, das Geld gehöre mir von Rechts wegen, da war das etwas ganz anderes. Das war kein Spaß mehr.»
Alfred Lee fragte erstaunt: «Was war kein Spaß mehr, Pilar? Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.»
«Du glaubst, ich sei deine Nichte, Pilar Estravados. Aber das ist nicht wahr! Pilar ist getötet worden, als wir zusammen in einem Auto durch Spanien fuhren. Eine Bombe fiel auf unseren Wagen – sie war sofort tot, ich wurde nicht getroffen. Ich kannte sie kaum, aber sie hatte mir viel erzählt von ihrem Großvater, der sie zu sich nach England eingeladen hatte und sehr, sehr reich sei. Und ich selber hatte gar kein Geld und wusste nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Und da dachte ich plötzlich: Warum nicht Pilars Pass nehmen und nach England fahren und dort reich werden.» Ein Lächeln huschte plötzlich über ihre Züge. «Oh, es war ein Spaß, mir auszudenken, ob mir die Sache glücken würde! Auf den Passfotos sahen wir einander ziemlich ähnlich. Aber als man hier plötzlich meinen Pass haben wollte, warf ich ihn zum Fenster hinaus und rieb dann ein wenig Erde auf das Foto. Bei den Grenzübergängen sehen sie ja nicht so genau auf die Bilder, aber hier hätte man den Unterschied doch bemerken können…»
Alfred Lee war zornig. «Dann heißt das also, dass du – dass Sie sich meinem Vater als Enkelin vorstellten und auf seine Liebe spekulierten?»
Pilar nickte. Sie antwortete unbefangen: «Ja, weil ich sofort merkte, dass er mich gern hatte.»
«Unglaublich, unerhört!», brach nun George Lee aus. «Verbrecherisch! Sich unter falschen Angaben Geld erschwindeln zu wollen!»
«Von dir hat sie ja keines bekommen, Alter», warf Harry hier ein. «Pilar, ich stehe treu und fest zu dir! Ich bewundere deinen Mut. Und Gott sei Dank bin ich ja jetzt nicht mehr dein Onkel! Das gibt mir viel mehr Freiheit!»
Pilar wandte sich Poirot zu. «Sie wussten es! Seit wann?»
«Mademoiselle, wenn Sie die mendelschen Gesetze studiert hätten, dann wüssten Sie, dass zwei blauäugige Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit kein braunäugiges Kind haben. Ihre Mutter, überlegte ich, war bestimmt eine sehr züchtige und ehrbare Frau: Daraus folgerte ich, dass Sie also nicht Pilar Estravados sein können. Und als Sie dann noch das Manöver mit dem Pass vollführten, war ich meiner Sache ziemlich sicher. Es war alles recht klug ausgedacht, aber eben doch nicht klug genug, sehen Sie.»
Sugden lachte unangenehm. «Das ganze Theater war nicht sehr klug.»
Pilar starrte ihn an. «Ich verstehe nicht…»
«Sie haben uns jetzt eine Geschichte erzählt, aber es gibt noch allerhand, was Sie uns werden sagen müssen.»
«Lassen Sie sie in Ruhe!», brauste Stephen auf.
Doch Sugden ließ sich nicht einschüchtern.
«Sie haben uns gesagt, dass Sie nach dem Nachtessen zu Ihrem Großvater hinaufgingen – um ihm eine Freude zu machen, wie Sie sich ausdrückten –, aber ich glaube etwas ganz anderes. Sie haben die Diamanten gestohlen. Sie hatten sie in der Hand gehabt. Vielleicht haben Sie sie einmal in den Safe zurückgelegt, ohne dass der alte Herr Ihnen dabei zusah. Als er das Verschwinden der Steine bemerkte, wusste er, dass nur zwei Menschen sie fortgenommen haben konnten: Horbury, der sich das Kennwort irgendwie verschafft haben mochte und die Steine einmal nachts gestohlen haben konnte – oder Sie!
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