Nun hatte aber Mr Lee sofort reagiert. Er rief mich an und bat mich, zu ihm zu kommen. Dann ließ er Ihnen ausrichten, Sie möchten nach dem Abendessen unverzüglich zu ihm hinaufkommen. Und als Sie bei ihm erschienen, klagte er Sie des Diebstahls an. Sie stritten es ab. Er trieb Sie in die Enge. Was dann geschah, weiß ich nicht. Vielleicht war er auch bereits dahinter gekommen, dass Sie nicht seine Enkeltochter waren, sondern eine Berufsdiebin. Jedenfalls sahen Sie sich mit einem Schlag entlarvt, und um der drohenden Bloßstellung zu entgehen, stachen Sie mit einem Messer nach ihm. Es entstand ein Kampf, und der alte Herr schrie. Nun rannten Sie aus dem Zimmer, drehten den Schlüssel von außen im Schloss um, und dann, wohl wissend, dass Sie nirgends mehr hinlaufen konnten, ehe die anderen Hausbewohner kamen, schlüpften Sie in die Nische mit den Statuen!»
«Das ist nicht wahr!», schrie Pilar gellend auf. «Es ist nicht wahr! Ich habe die Diamanten nicht gestohlen! Das schwöre ich bei der heiligen Mutter Gottes!»
«Wer hat sie dann gestohlen?», fragte Sugden scharf. «Sie behaupten, jemanden vor Mr Lees Zimmertür gesehen zu haben. Ihren Schilderungen zufolge müsste also jene Person der Mörder gewesen sein. Aber nichts und niemand erhärtet Ihre Behauptung, dass jemand dort gestanden hatte. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass Sie diese Person nur erfunden haben, um sich selber zu entlasten!»
«Natürlich ist sie die Täterin!», rief George Lee. «Das ist doch ganz klar! Ich habe ja immer gesagt, dass ein Außenstehender meinen Vater getötet haben muss! Unfasslicher Blödsinn, anzunehmen, dass jemand aus dem Familienkreis diese Tat hätte begehen können. Das war ja – das wäre unnatürlich.»
Poirot setzte sich plötzlich in seinem Stuhl auf.
«Da kann ich Ihnen nicht beistimmen. Angesichts des Charakters von Simeon Lee wäre das sogar sehr natürlich gewesen.» George Lee blieb der Mund offen, und er glotzte Poirot an. «Und meiner Ansicht nach», fuhr er unbeirrt fort, «ist das auch tatsächlich geschehen. Simeon Lee wurde durch jemanden von seinem eigenen Fleisch und Blut umgebracht um einer Sache willen, die dem Mörder Grund genug für einen Mord schien.»
«Einer von uns?», kreischte George auf. «Niemals! Ich –»
Poirot schnitt ihm das Wort ab. «Hier stehen alle unter Verdacht! Beginnen wir doch gleich mit Ihnen, Mr George Lee. Sie liebten Ihren Vater nicht. Wenn Sie sich trotzdem mit ihm gut stellten, geschah dies des Geldes wegen. An dem Tag, da er ermordet wurde, hatte er Ihnen gedroht, Ihren Zuschuss zu kürzen. Sie wussten, dass Sie nach seinem Tod eine nicht unerhebliche Summe erben würden. Damit wäre Ihr Motiv gegeben. Nach dem Abendessen telefonierten Sie. Das stimmt. Aber Ihr Anruf dauerte nur fünf Minuten. Sie konnten also mit Leichtigkeit nachher zu Ihrem Vater hinaufgegangen sein, mit ihm geplaudert, ihn angegriffen und getötet haben. Dann verließen Sie sein Zimmer, sperrten die Tür von außen ab und wiegten sich in der Hoffnung, dass man diesen Mord einem Einbrecher zur Last legen werde. Aber in Ihrer begreiflichen Erregung vergaßen Sie, das Fenster weit genug offen zu lassen, um diese Einbrechertheorie auch wirklich abzusichern. Das war sehr dumm, aber Sie sind, wenn Sie meine Offenheit verzeihen wollen, ein ziemlich dummer Mensch.» Nach einer langen Pause, während welcher George Lee nach Luft schnappte und etwas zu sagen versuchte, was ihm aber nicht gelang, fügte Poirot noch hinzu:
«Immerhin waren viele Verbrecher sehr dumm.»
Nun richtete er das Wort an Magdalene.
«Auch Madame hatte ein Motiv. Sie ist verschuldet, und der Ton verschiedener Bemerkungen, die ihr Schwiegervater über sie machte, mochte ihr äußerst unangenehm in den Ohren geklungen haben. Auch sie hat kein Alibi. Sie ging zum Telefon, telefonierte aber nicht, und ihre Aussage wird von niemandem bestätigt…
Dann wäre da Mr David Lee. Wir haben nicht einmal, sondern x-mal gehört, wie viel Rachsucht im Blut der Lees kreist. Mr David Lee vergaß und verzieh nie, wie schlecht sein Vater seine Mutter behandelt hatte. Eine letzte Verunglimpfung der Verstorbenen kann das Maß zum Überlaufen gebracht haben. David Lee soll Klavier gespielt haben, als der Mord passierte. Zufälligerweise spielte er einen Trauermarsch. Aber es wäre doch möglich, dass jemand anderer diesen Trauermarsch spielte, jemand, der wusste, was David zu tun im Begriff war, und der diesen Schritt begrüßte.»
«Das ist eine infame Vermutung», sagte Hilda Lee ruhig.
Poirot wandte sich ihr zu.
«Dann biete ich Ihnen eine andere, Madame. Es war Ihre Hand, die den Todesstoß führte. Sie schlichen die Treppe hinauf, um einen Menschen zu richten, der Ihrer Ansicht nach jenseits aller menschlichen Verzeihung stand. Sie gehören zu den Menschen, die sehr jähzornig werden können, Madame.»
Darauf antwortete Hilda nur: «Ich habe ihn nicht getötet.»
«Mr Poirot hat Recht», sagte Sugden plötzlich. «Alle hier Anwesenden könnten als Täter in Frage kommen – ausgenommen Mr und Mrs Alfred Lee und Mr Harry Lee.»
«Ich würde nicht einmal diese drei ausnehmen», sagte Poirot.
Lydia lächelte ironisch. «Ach? Und wie würden Sie den Verdacht gegen mich begründen, Mr Poirot?»
«Ihren Beweggrund können wir beiseite lassen, Madame. Er ist offensichtlich. Ansonsten aber; Sie trugen an jenem Abend ein geblümtes Taftkleid von auffallend großem Muster und eine Jacke aus dem gleichen Stoff. Ich muss hier einflechten, dass Tressilian ziemlich kurzsichtig ist. Aus einer gewissen Entfernung sieht er die Dinge nur noch verschwommen. Ferner möchte ich festhalten, dass das Wohnzimmer sehr groß und eigentlich ziemlich spärlich erhellt ist. Nun kam also am Mordabend Tressilian ins Wohnzimmer – ungefähr zwei Minuten ehe der Schrei ertönte – und trug die Kaffeetassen hinaus. Er glaubte, Sie am Fenster stehen zu sehen, wie er Sie schon oft dort stehen sah – halb verdeckt durch die schweren Vorhänge.»
«Er hat mich gesehen», bemerkte Lydia ruhig.
«Nun, ich möchte sagen, dass es möglich ist, dass Tressilian nicht Sie, sondern die Jacke Ihres Kleides sah, die Sie so beim Fenster hingehängt hatten, dass es aussehen sollte, als ob Sie selber dort stünden.»
«Wie dürfen Sie es wagen, so was zu sagen», fuhr Alfred auf.
«Lass ihn», unterbrach ihn Harry. «Jetzt kommen wir dran. Wie wollen Sie nun erklären, dass Alfred seinen geliebten Vater umgebracht haben kann? Wir saßen nämlich beide zusammen im Speisezimmer, als der Schrei ertönte.»
«Das ist denkbar einfach! Ein Alibi erscheint immer glaubwürdiger, wenn es fast widerwillig bestätigt wird. Sie und Ihr Bruder verstehen sich nicht gut. Das ist allgemein bekannt. Sie machen ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich, und er hat kein gutes Wort für Sie. Aber nehmen Sie einmal an, dass wir Zeugen eines raffinierten Komplotts gewesen sind. Dass Alfred Lee es satt bekommen hat, immer noch nach dem Taktstock eines anderen zu tanzen. Nehmen wir an, dass Sie sich vor einiger Zeit mit Ihrem Bruder getroffen haben und dass bei dieser Zusammenkunft ein Plan festgelegt wurde. Sie kommen nach Hause zurück. Alfred scheint darüber sehr erbost. Er ist eifersüchtig auf Sie und kann Sie offensichtlich nicht ausstehen. Sie wiederum verachten ihn. Und dann bricht endlich der Mordabend an, den Sie so genau geplant hatten. Einer von Ihnen bleibt im Speisezimmer und redet laut, um den Anschein zu erwecken, dass zwei Personen miteinander stritten. Der andere aber schleicht die Treppe hoch und begeht den Mord…»
Alfred sprang auf. «Sie Teufel!», keuchte er.
Sugden sah Poirot an. «Glauben Sie wirklich, dass…»
Poirot erhob seine Stimme und sagte: «Ich musste Ihnen die Möglichkeiten zeigen! So hätten sich die Dinge abspielen können. Wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben, das können wir nur herausfinden, indem wir vom äußeren Schein zur inneren Realität gelangen…»
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