Adam lachte.
»Sie kennen ihn wirklich gut, Monsieur Poirot. Ich habe ihn noch nie völlig wach gesehen; wenn das einmal vorkommen sollte, werde ich wissen, dass er nicht ganz bei der Sache ist.«
»Gut beobachtet, junger Freund«, bemerkte Poirot anerkennend.
»Aber wir wollen zur Sache kommen«, mahnte der Polizeichef. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen meine eigenen Theorien auseinanderzusetzen. Ich möchte vielmehr hören, was die Herren, die den Fall bearbeiten, dazu zu sagen haben. Ich will nur eine Angelegenheit klären, die mir von gewisser Seite nahe gelegt worden ist.« Er sah Poirot an. »Nehmen wir an, dass ein junges Mädchen – eine Schülerin – zu Ihnen kam und behauptete, im ausgehöhlten Griff eines Tennisschlägers etwas gefunden zu haben. Sagen wir, eine Sammlung imitierter Edelsteine, vielleicht waren es sogar Halbedelsteine, die oft genauso schön sind wie echte Steine. Selbstverständlich wäre jedes Kind über einen solchen Fund ungeheuer erregt, und wahrscheinlich würde es den Wert einer solchen Sammlung weit überschätzen…« Er sah Poirot scharf an. »Halten Sie das nicht auch für möglich?«
»Ich halte es für durchaus möglich«, erwiderte Poirot.
»Gut«, sagte der Polizeichef. »Da die Person, die diese… diese bunten Steine ins Land brachte, nichts davon wusste und also ganz unschuldig war, ziehen wir die Möglichkeit eines Schmuggels in Betracht.
Ferner erhebt sich die Frage nach außenpolitischen Verwicklungen, die wir unbedingt vermeiden wollen… Aber einen Mord kann man nicht geheim halten, und selbstverständlich haben die Zeitungen darüber berichtet, ohne jedoch die Juwelen zu erwähnen. Ich wäre dafür, es im Augenblick dabei zu lassen.«
»Das ist auch meine Meinung«, erklärte Poirot. »Man darf gewisse internationale Komplikationen nicht unnötig heraufbeschwören.«
»Sehr richtig. Der verstorbene Herrscher von Ramat galt als Freund dieses Landes. Ich glaube bestimmt, dass die zuständigen Stellen seinen Wünschen entsprechend vorgehen möchten, falls sich ein Teil seines Eigentums in England befinden sollte. Über Art und Ausmaß dieses Eigentums weiß natürlich niemand Bescheid, und das ist gut so, denn dadurch sind wir nicht in der Lage, etwaige diesbezügliche Fragen der neuen Regierung von Ramat zu beantworten.«
»Très bien. Man kann mit gutem Gewissen behaupten, dass man nichts Genaues über den Privatbesitz des verstorbenen Herrschers weiß, aber die Angelegenheit im Auge behalten wird«, sagte Poirot.
Der Polizeichef stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Ich danke Ihnen, Monsieur Poirot. Wir verstehen uns.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wie ich weiß, haben Sie in Regierungskreisen Freunde, die volles Vertrauen zu Ihnen haben, Monsieur Poirot. Sie würden Wert darauf legen, einen gewissen Gegenstand vorläufig in Ihrer Obhut zu lassen – falls Sie nichts dagegen einzuwenden haben?«
»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Poirot. »Lassen wir es dabei bewenden. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen, nicht wahr? Denn was sind drei viertel Millionen Pfund – oder mehr – im Vergleich zu einem Menschenleben?«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erklärte der Polizeichef.
»Ich auch«, bekräftigte Kelsey. »Wir sind auf der Suche nach einem Mörder. Vorläufig tappen wir noch im Dunkeln, und wir brennen darauf, Ihre Meinung zu hören, Monsieur Poirot. Das Ganze ist wie ein wirres Knäuel von bunten Wollfäden.«
»Eine ausgezeichnete Beschreibung«, lobte Poirot. »Es ist unsere Aufgabe, diese Fäden zu entwirren und die richtige Farbe zu isolieren – die Farbe des Mörders… Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch einmal in allen Einzelheiten wiederholen würden, was sich bisher abgespielt hat.«
Poirot lehnte sich zurück, um zuzuhören.
Zuerst sprach Kommissar Kelsey, dann Adam Goodman. Schließlich fasste der Polizeichef die Berichte noch einmal kurz zusammen.
Poirot lauschte mit geschlossenen Augen. Dann nickte er.
»Zwei Morde«, sagte er. »Am gleichen Ort, unter den gleichen Bedingungen. Eine Entführung. Das entführte Mädchen könnte unter Umständen im Mittelpunkt des verbrecherischen Plans stehen. Versuchen wir festzustellen, warum sie entführt worden ist.«
Kelsey gab die Unterhaltung wieder, die er mit Shanda gehabt hatte. »Ich hielt das Ganze für Wichtigtuerei«, gestand er.
»Aber die Tatsache, dass sie entführt worden ist, lässt sich nicht leugnen. Warum?«
»Man hat Lösegeld verlangt…«, sagte Kelsey langsam.
»Aber nicht ernsthaft darauf bestanden, nicht wahr?«, fragte Poirot. »Man hat es nur verlangt, um die Theorie einer Entführung zu unterstreichen, habe ich Recht?«
»Ja. Die Verabredungen wurden nicht eingehalten.«
»Shanda muss also aus einem anderen Grund entführt worden sein. Aus welchem Grund?«
»Vielleicht wollte man von ihr erfahren, wo die Wertgegenstände verborgen sind?«, meinte Adam unsicher.
Poirot schüttelte den Kopf.
»Davon wusste sie nichts, das steht fest. Nein, es muss einen anderen Grund gehabt haben…«
Er schwieg einen Augenblick mit gerunzelter Stirn. Plötzlich stellte er eine Frage:
»Ihre Knie! Haben Sie jemals ihre Knie bemerkt?«
Adam sah ihn erstaunt an.
»Nein. Warum sollte ich?«
»Es gibt viele Gründe, warum ein Mann die Knie eines Mädchens bemerkt. Leider haben Sie es nicht getan«, erwiderte Poirot.
»Hatte sie vielleicht eine Narbe am Knie? Oder etwas Ähnliches?«, fragte Adam. »Ich habe jedenfalls nichts gesehen, da die Röcke der jungen Mädchen vorschriftsmäßig die Knie bedecken.«
»Haben Sie sie niemals im Schwimmbad gesehen?«, fragte Poirot hoffnungsvoll.
»Bestimmt nicht. Sie ist nie ins Wasser gegangen; war ihr zu kalt, nehme ich an. Sie war an ein wärmeres Klima gewöhnt. Denken Sie an eine Narbe?«
»Nein, nein. Durchaus nicht… jammerschade.«
Poirot wandte sich zum Polizeichef.
»Wenn Sie gestatten, werde ich mich mit meinem alten Freund, dem Polizeipräsidenten von Genf, in Verbindung setzen. Er wird uns vielleicht helfen können.«
»Handelt es sich um etwas, das sich während ihrer dortigen Schulzeit ereignet hat?«
»Schon möglich. Sie haben nichts dagegen? Gut. Es ist nur so eine meiner Ideen…« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Die Presse hat die Entführung doch bisher nicht erwähnt?«
»Nein, auf ausdrücklichen Wunsch des Emirs Ibrahim.«
»Aber ich habe in einem Feuilleton etwas über eine junge Ausländerin gelesen, die plötzlich aus ihrem Internat verschwand. Der Journalist deutete an, dass es sich um eine Liebesgeschichte handeln würde, nicht wahr?«
»Das war meine Idee«, erklärte Adam. »Ich hielt es für eine gute fälsche Fährte.«
»Hervorragend!«, lobte Poirot. »Und nun wenden wir uns von der Entführung ab und dem Mord zu. Zwei Morde in Meadowbank.«
»Zwei Morde in Meadowbank«, wiederholte Poirot nachdenklich.
»Wir haben Ihnen die Tatsachen berichtet«, sagte Kelsey. »Was halten Sie davon?«
»Warum in der Turnhalle? Das war die Frage, nicht wahr?«, sagte Poirot zu Adam. »Die Antwort darauf ist uns jetzt bekannt. Weil dort ein Tennisschläger war, in dessen ausgehöhltem Griff sich ein Vermögen befand. Aber wer hat davon gewusst? Möglicherweise Miss Springer, die, wie Sie mir gesagt haben, es nicht mochte, dass Leute, die dort nichts zu suchen hatten, in die Turnhalle kamen. Das bezog sich ganz besonders auf Mademoiselle Blanche.«
»Mademoiselle Blanche«, wiederholte Kelsey stirnrunzelnd.
Poirot wandte sich an Adam.
»Auch Sie schöpften Verdacht, als Sie Mademoiselle Blanche in der Turnhalle antrafen, nicht wahr?«
»Sie gab sich übertrieben große Mühe, ihre Anwesenheit zu erklären. Nur das hat mich stutzig gemacht.« Poirot nickte.
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