Als die Schulglocke sie aufweckte, lag sie in einer verkrampften, unbequemen Stellung quer über dem Bett.
Nach dem Frühstück gingen die jungen Mädchen in ihre Zimmer, um die Betten zu machen. Dann fand unten in der Aula die Morgenandacht statt. Danach verteilten sich die Schülerinnen auf die verschiedenen Klassenzimmer.
Diesen Augenblick benutzte Julia, um sich einer Gruppe anzuschließen, mit der sie ein Klassenzimmer betrat, das sie jedoch unbeobachtet durch eine andere Tür wieder verließ. Es gelang ihr, das Schulhaus durch eine Seitentür unbemerkt zu verlassen. Sie versteckte sich einige Minuten hinter der Rhododendronhecke, dann schlich sie zu der Steinmauer, die das Grundstück umgab, und kletterte geschickt auf eine knorrige alte Linde, in deren dicht belaubten Zweigen sie sich eine Zeit lang verborgen hielt. Sie sah auf die Uhr und überdachte nochmals die Lage. Die Schule war im Augenblick nicht so gut organisiert wie sonst. Die Hälfte der Schülerinnen war fort, zwei Lehrerinnen fehlten, und daher waren die Stundenpläne umgeändert worden.
Bis zum Mittagessen würde sie höchstwahrscheinlich nicht vermisst werden, und dann…
Sie blickte wiederum auf die Uhr, kletterte vom Baum auf die Mauer und landete auf der anderen Seite mit einem mehr oder weniger eleganten Sprung. In etwa hundert Meter Entfernung befand sich eine Haltestelle, wo jeden Augenblick ein Autobus ankommen musste. Julia zog einen etwas schäbigen Filzhut aus der Tasche ihres Baumwollkleides, stülpte ihn über ihre wirren Locken und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof, wo sie den nächsten Zug nach London nahm.
Auf dem Waschtisch in ihrem Zimmer hatte Julia einen an Miss Bulstrode adressierten Brief hinterlassen.
Liebe Miss Bulstrode,
ich bin nicht entführt worden, und ich habe auch nicht die Absicht durchzubrennen. Bitte machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme so bald wie möglich zurück.
Mit den besten Grüßen,
Ihre Julia Upjohn.
George, Hercule Poirots untadeliger Diener, öffnete die Tür von Whitehouse Mansions 228. Zu seinem Erstaunen stand ein Schulmädchen mit einem ziemlich schmutzigen Gesicht davor.
»Könnte ich bitte Monsieur Hercule Poirot sprechen?«
George zögerte einen Augenblick, bevor er erwiderte:
»Monsieur Poirot empfängt nur Besucher, die sich vorher bei ihm angemeldet haben.«
»Ich hatte leider keine Zeit, eine Verabredung zu treffen. Ich muss Monsieur Poirot sofort sehen. Es ist sehr dringend!… Es handelt sich um zwei Raubmorde.«
»Ich werde mit Monsieur Poirot sprechen«, erwiderte George kopfschüttelnd.
Er führte sie in die Diele und ging zu seinem Herrn.
»Eine junge Dame wünscht Sie dringend zu sprechen, Monsieur.«
»Tatsächlich? Sie scheint sich das etwas zu einfach vorzustellen.«
»Ebendas habe ich ihr bereits mitgeteilt, Monsieur.«
»Was für eine junge Dame?«
»Eigentlich ist es noch ein Mädchen, Monsieur.«
»Ein Mädchen? Eine junge Dame? Was soll das heißen? Können Sie sich nicht etwas präziser ausdrücken, George?«
»Entschuldigen Sie, dass ich mich unklar ausgedrückt habe, Monsieur. Sie geht sicher noch zur Schule, aber trotzdem ist sie eine junge Dame.«
»Ihre Charakterisierung bezieht sich also auf ihre gesellschaftliche Herkunft – ich verstehe.«
»Sie wünscht mit Ihnen über zwei Raubmorde zu sprechen.«
Poirot runzelte die Stirn.
»Raubmorde? Wie originell! Führen Sie die junge Dame herein, George.«
Julia kam ins Zimmer, ohne sich ihre leichte Scheu anmerken zu lassen. Sie sprach höflich und natürlich.
»Guten Tag, Monsieur Poirot, ich heiße Julia Upjohn. Ich glaube, Sie kennen eine sehr gute Freundin meiner Mutter – Mrs Summerhayes. Wir waren im vergangenen Sommer bei ihr zu Besuch, und sie hat viel von Ihnen gesprochen.«
»Mrs Summerhayes…« Poirots Gedanken kehrten zu dem Dorf am Fuß jenes Hügels zurück und zu dem Haus auf jenem Hügel. Er erinnerte sich an ein reizendes Gesicht mit vielen Sommersprossen, an ein Sofa mit einer gesprungenen Feder, an eine Meute von Hunden, an Angenehmes und Unangenehmes…
»Natürlich kenne ich Maureen Summerhayes«, sagte er.
»Ich nenne sie Tante Maureen, obwohl sie gar nicht mit mir verwandt ist. Sie erzählte uns, wie wundervoll Sie seien – dass es Ihnen gelungen sei, einen Mann zu retten, der unter Mordverdacht im Gefängnis war, und… und als ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte, bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Ich fühle mich sehr geehrt«, versicherte Poirot feierlich.
Er brachte Julia einen Stuhl.
»So, und jetzt möchte ich Sie bitten, mir zu erzählen, was Sie auf dem Herzen haben. Mein Diener George hat mir gesagt, dass es sich um einen, sogar um zwei Morde handelt. Stimmt das?«
»Ja. Miss Springer und Miss Vansittart sind ermordet worden, dazu noch die Entführung…«
»Verzeihen Sie, aber ich kann nicht ganz folgen«, unterbrach Poirot. »Wo hat sich das alles abgespielt?«
»In meiner Schule – in Meadowbank.«
»Meadowbank – tatsächlich«, sagte Poirot. Er streckte seine Hand aus, um eine sorgfältig zusammengefaltete Zeitung zu öffnen. Er überflog die erste Seite, dann nickte er.
»Ich beginne zu begreifen. Darf ich Sie bitten, mir nun alles der Reihe nach zu schildern, mein Kind?«
Julia erzählte ihm alles. Es war ein ausführlicher Bericht, aus dem Poirot den Gang der Ereignisse klar und deutlich ersehen konnte.
Ihre letzten Worte waren:
»Als die Steine gestern Abend aus meinem Tennisschläger auf den Tisch rollten, kam ich mir vor wie Aladin, und nun werde ich sie Ihnen zeigen.«
Julia hob ihren Rock ohne falsche Scham bis zum Schenkel auf.
Jetzt wurde etwas sichtbar, das wie ein grauer Breiumschlag aussah und mit Heftpflasterstreifen auf ihren Oberschenkel geklebt war.
Sie riss die Pflasterstreifen mit einem Ruck ab, wobei sie laut »au« sagte, und legte den Umschlag, den Poirot jetzt als einen grauen Schwammbeutel erkannte, auf den Tisch. Julia öffnete den Beutel resolut, und ein Häufchen glitzernder Juwelen rollte heraus.
»Nom d’un nom d’un nom!«, flüsterte Poirot erregt.
Er ließ die Steine durch seine Finger gleiten. »Nom d’un nom! Sie sind tatsächlich echt!«
Julia nickte.
»Sie müssen echt sein, sonst wäre ihretwegen niemand ermordet worden, nicht wahr? Aber ich kann verstehen, dass man dafür ein Verbrechen begeht«, sagte sie, plötzlich ganz Frau.
Poirot betrachtete sie aufmerksam.
»Ja, der alte Zauber übt auch auf Sie seine Wirkung aus. Leider… leider…«
»Juwelen – kostbare Juwelen«, murmelte Julia hingerissen:
»Die haben Sie also im Griff Ihres Tennisschlägers gefunden. Phantastique!«, sagte Poirot. »Haben Sie mir jetzt alles erzählt?«
»Ich glaube, ja. Vielleicht habe ich gelegentlich ein bisschen übertrieben, denn dazu neige ich leider – im Gegensatz zu meiner Freundin Jennifer.« Julia warf noch einmal einen bewundernden Blick auf die funkelnden Steine. »Wem gehören sie nun wirklich, Monsieur Poirot?«
»Das wird sich wahrscheinlich schwer feststellen lassen. Jedenfalls gehören sie weder Ihnen noch mir. Wir müssen zunächst einmal überlegen, was wir unternehmen wollen.«
Julia sah ihn erwartungsvoll an.
»Sie überlassen mir alles Weitere. Gut.«
Hercule Poirot schloss die Augen.
Nach kurzem Schweigen öffnete er sie wieder und sagte lebhaft: »In diesem Fall wird mir leider nichts anderes übrig bleiben, als selbst einzugreifen. Bei mir muss immer alles seine Ordnung haben, aber die Ereignisse, die Sie mir beschrieben haben, scheinen völlig zusammenhanglos zu sein. Zu viele verschiedene Fäden… verschiedene Menschen mit verschiedenen Zielen und Interessen. Nur eines steht fest: Das Zentrum der Ereignisse ist Meadowbank. Und deshalb muss auch ich unbedingt nach Meadowbank fahren. Und Sie, mein Kind? Wo ist eigentlich Ihre Mutter?«
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