»Eine ausgezeichnete Idee«, lobte der Polizeichef.
»Dabei dürfen Sie natürlich nicht vergessen, dass viele junge Mädchen dazu neigen, sich aufzuspielen, belanglose Vorfälle aufzubauschen oder sie gar zu erfinden. Aber ich nehme an, dass Ihnen diese Art von Wichtigtuerei nicht unbekannt ist.«
»Durchaus nicht«, erwiderte Kelsey lächelnd. »Dürfte ich Sie jetzt um die Namen der Lehrerinnen und des Personals bitten?«
»Ich habe sämtliche Schließfächer in der Turnhalle durchsucht, Kommissar.«
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Nichts von Interesse.«
»Waren alle Fächer unverschlossen?«
»Ja. Man kann sie jedoch abschließen. In jeder Fachtür steckt ein Schlüssel.«
Kelsey starrte nachdenklich auf den Boden. Die Tennis- und Hockeyschläger waren inzwischen wieder ordentlich im Ständer verstaut worden.
»So, ich gehe jetzt ins Haus, um das Personal und die Lehrerinnen zu verhören«, erklärte er.
»Halten Sie es für möglich, dass der Mord von jemandem begangen wurde, der im Pensionat lebt?«
»Möglich wär’s«, erwiderte Kelsey. »Nur Miss Chadwick, Miss Johnson und Jane, das Mädchen mit den Ohrenschmerzen, haben ein Alibi. Alle anderen lagen angeblich in ihren Betten, aber niemand ist imstande, es zu beweisen.
Die Schülerinnen schlafen, ebenso wie die Lehrerinnen und die Dienstboten, in Einzelzimmern. Theoretisch hätte jede von ihnen ausgehen und Miss Springer in der Turnhalle treffen können. Nach vollbrachter Tat konnte die Betreffende sich durch die Büsche zurückschleichen, das Schulhaus durch den Seiteneingang betreten und bereits wieder im Bett liegen, als der Alarm gegeben wurde. Meine größte Schwierigkeit besteht darin, ein Motiv für den Mord zu entdecken. Wenn hier nicht irgendetwas vorgeht, wovon wir nichts wissen, fehlt das Motiv.«
Er verließ die Turnhalle und ging langsam zum Haus. Obwohl es schon spät war, arbeitete der alte Briggs noch im Garten. Er richtete sich auf, als der Kommissar vorbeikam.
»Noch immer fleißig?«, fragte Kelsey.
»Unsereiner ist ja nicht wie die jungen Leute, die um Punkt fünf den Spaten fallen lassen. Ein Gärtner muss sich nach dem Wetter richten, nicht nach der Uhr. Gibt genug Tage, an denen man nichts im Garten machen kann, dafür muss man eben manchmal früh um sieben anfangen und abends um Acht aufhören. Was verstehen die jungen Leute schon davon! Ich bin sehr stolz auf meinen Garten!«
»Dazu haben Sie auch allen Grund«, entgegnete Kelsey. »Heutzutage sieht man nicht viele Gärten, die so gepflegt sind wie dieser.«
»Heutzutage, heutzutage…«, seufzte Briggs. »Aber ich hab Glück gehabt, habe endlich mal einen kräftigen jungen Hilfsgärtner gefunden – außerdem zwei Jungen, aber die taugen nicht viel. Wollen nicht arbeiten, gehen lieber in die Fabrik, wollen sich die Hände nicht mit Gartenerde und Kompost schmutzig machen. Na ja, da hab ich wirklich mal Glück gehabt, dass dieser junge Mann daherkam und bei mir arbeiten wollte.«
»Kürzlich?«, fragte der Kommissar.
»Ja. Als das Schuljahr anfing. Adam heißt er. Adam Goodman.«
»Ich habe ihn, glaube ich, noch nicht gesehen.«
»Hat sich heute den Tag freigeben lassen«, erklärte Briggs. »Mir war’s recht. Konnte ja doch nicht viel machen, von wegen Ihren Polizisten. Sind ja den ganzen Tag lang über das Grundstück getrampelt.«
»Man hätte mich über seine Anwesenheit informieren sollen«, erklärte Kelsey gereizt.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Briggs.
»Er steht nicht auf der Liste der Leute, die hier angestellt sind«, erklärte der Kommissar.
»Ach so. Na, da werden Sie ihn eben morgen sehen«, meinte der Gärtner. »Viel erzählen wird der Ihnen wohl nicht.«
»Man kann nie wissen«, sagte der Kommissar.
Ein kräftiger junger Mann, der seine Dienste erst kürzlich angeboten hatte… Kelsey glaubte zum ersten Mal auf etwas gestoßen zu sein, das von Interesse sein könnte.
Nach Ende der Abendandacht, als die Schülerinnen im Begriff waren, die Aula zu verlassen, hob Miss Bulstrode Aufmerksamkeit heischend die Hand.
»Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen. Wie Sie wissen, ist Miss Springer gestern Nacht in der Turnhalle erschossen worden. Wenn jemand von Ihnen während der letzten Woche irgendetwas Sonderbares gehört oder gesehen hat, das im Zusammenhang mit Miss Springers Tod stehen könnte, so bitte ich Sie, es mir mitzuteilen. Ich werde den Abend über in meinem Wohnzimmer sein.«
»Ich wünschte, wir wüssten etwas«, seufzte Julia Upjohn, während die Mädchen die Aula verließen. »Aber leider haben wir keine blasse Ahnung, nicht wahr, Jennifer?«
»Keinen Schimmer«, bestätigte Jennifer.
»Miss Springer war so schrecklich uninteressant«, stellte Julia fest. »Eigentlich viel zu uninteressant, um auf geheimnisvolle Weise ums Leben zu kommen.«
»Wieso geheimnisvoll?«, fragte Jennifer. »Es war ganz einfach ein Einbrecher.«
»Der unsere Tennisschläger stehlen wollte?«, fragte Julia sarkastisch. »Vielleicht ist sie einem Erpresser in die Hände gefallen«, meinte eine der anderen Schülerinnen.
»Aus welchem Grund?«, fragte Jennifer.
Niemand konnte sich vorstellen, weshalb jemand Miss Springer erpresst haben sollte.
Kommissar Kelsey begann sein Verhör mit Miss Vansittart. Eine gut aussehende Frau, dachte er. Etwas über vierzig, groß, gute Figur, gepflegtes graues Haar. Sie besitzt Haltung und Würde und ist von ihrer Wichtigkeit überzeugt, dachte er. Sie erinnerte ihn sogar ein wenig an Miss Bulstrode, obwohl diese zweifellos die stärkere Persönlichkeit war. Miss Vansittart würde, im Gegensatz zu Miss Bulstrode, niemals etwas Unerwartetes tun.
Er stellte ihr die üblichen Fragen und erhielt nichts sagende Antworten. Miss Vansittart hatte nichts gesehen, nichts gehört und nichts bemerkt. Miss Springer war ihrer Ansicht nach eine ausgezeichnete Turnlehrerin gewesen. Sie war vielleicht nicht sehr zuvorkommend, nicht sehr liebenswürdig, aber das spielte beim Sport keine so große Rolle. Es war sogar, in gewisser Weise, ein Vorteil, denn junge Mädchen neigten nun einmal dazu, nette junge Lehrerinnen anzuschwärmen. Miss Vansittart bevorzugte eigentlich eher herbere Typen. Da sie nichts von Bedeutung auszusagen hatte, durfte sie rasch wieder gehen.
»Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses denken, wie die drei Affen«, bemerkte Sergeant Percy Bond, der Kommissar Kelsey bei seiner Arbeit half. »Diese Lehrerinnen sind alle gleich. Ich kann sie nicht ausstehen, seit ich ein kleiner Junge war. Unsere Lehrerin war ein richtiges Scheusal, so was vergisst man nicht.«
Die nächste Lehrerin war Eileen Rich. Hässlich wie die Nacht, war Kelseys erste Reaktion, trotzdem fand er sie nicht ohne Charme. Er stellte die üblichen Fragen, aber ihre Antworten waren etwas origineller, als er erwartet hatte. Nachdem auch sie aussagte, sie habe nichts Ungewöhnliches über Miss Springer gehört, fragte er: »Glauben Sie, dass Miss Springer persönliche Feinde hatte?«
»Ausgeschlossen«, erwiderte Eileen Rich schnell. »Das war ja ihre Tragödie. Niemand liebte sie, und niemand hasste sie.«
»Wie kommen Sie darauf, Miss Rich?«
»Ich bin sicher, dass niemand ein Interesse daran hatte, sie zu vernichten. Was immer sie tat und sagte, war oberflächlich, unbedeutend. Sie verstand es, die Leute zu verärgern, aber es handelte sich immer um Kleinigkeiten. Ich bin davon überzeugt, dass sie nicht um ihrer selbst willen ermordet worden ist, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
»Nicht genau, Miss Rich.«
»Wenn sie Kassiererin in einer Bank gewesen wäre, auf die ein Überfall stattfand, würde sie nicht erschossen worden sein, weil sie Grace Springer war, sondern weil sie an der Kasse saß. Niemand war an ihr persönlich interessiert. Ich glaube, dass sie das fühlte und deshalb so unleidlich war. Sie hatte an allen etwas auszusetzen und wusste jedem etwas Böses nachzusagen.«
Читать дальше