Miss Chadwick schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Ahnung. Sie mag hier etwas vergessen haben. Allerdings kann ich mir in diesem Fall nicht vorstellen, warum sie es mitten in der Nacht holen wollte.«
»Es sei denn, dass es sich um etwas sehr Wichtiges handelte«, meinte Kelsey.
Er blickte sich um. Nichts schien berührt worden zu sein, mit Ausnahme des Schlägerständers, der von der Wand abgerückt worden war. Auf dem Boden lagen mehrere Tennisschläger.
»Es ist durchaus möglich, dass auch sie, ebenso wie Miss Johnson, hier ein Licht bemerkt hat und nach dem Rechten sehen wollte. Das scheint mir sogar am wahrscheinlichsten zu sein.«
»Das glaube ich auch«, entgegnete Kelsey. »Ich frage mich nur, ob sie wirklich allein in die Turnhalle gegangen wäre.«
»Ja«, sagte Miss Chadwick ohne Zögern.
»Aber Miss Johnson hat Sie geweckt und Sie gebeten, mitzukommen.«
»Sehr richtig, und ich hätte ebenfalls eine meiner Kolleginnen geweckt, wenn ich das Licht zuerst gesehen hätte«, erwiderte Miss Chadwick. »Miss Springer war da anders. Sie besaß enormes Selbstvertrauen – sie hätte es sogar vorgezogen, sich einem Eindringling allein entgegenzustellen.«
»Noch eine Frage: War die Seitentür, durch die Sie und Miss Johnson das Haus verließen, offen?«
»Ja.«
»Vielleicht hatte Miss Springer die Tür aufgeschlossen?«
»Das scheint die logische Schlussfolgerung zu sein«, erwiderte Miss Chadwick.
»Wir nehmen also an, dass Miss Springer Licht in der Turnhalle sah, dass sie hierher kam, um nach dem Rechten zu sehen, und dass sie dabei von dem Eindringling entdeckt und erschossen worden ist.«
Er drehte sich mit einer brüsken Bewegung um und richtete die folgende Frage an Miss Bulstrode, die regungslos im Türrahmen stand.
»Erscheint Ihnen das ebenfalls als wahrscheinlich?«
»Keineswegs«, erwiderte Miss Bulstrode. »Der erste Teil Ihrer Annahme leuchtet mir ein. Ich kann mir vorstellen, dass Miss Springer in die Turnhalle kam, weil sie ein verdächtiges Licht bemerkt hatte. Dagegen verstehe ich nicht, warum die Person, die von ihr gestört wurde, sie erschossen haben soll. Warum ist sie nicht einfach fortgelaufen? Warum sollte irgendjemand sich nachts hier, mit einem Revolver bewaffnet, einschleichen? Lächerlich – einfach lächerlich! Hier ist nichts Wertvolles zu finden, bestimmt nichts, wofür man einen Mord riskieren würde.«
»Halten Sie es für wahrscheinlicher, dass Miss Springer hier ein Rendezvous gestört hat?«
»Diese Erklärung liegt auf der Hand«, sagte Miss Bulstrode. »Aber warum wurde sie ermordet? Ich halte es für ausgeschlossen, dass meine Schülerinnen oder deren Verehrer Revolver mit sich herumtragen.«
Kelsey war derselben Meinung.
»Auch ich glaube kaum, dass die jungen Freunde Ihrer Schülerinnen Schusswaffen besitzen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass Miss Springer hier mit einem Mann verabredet war…«
Miss Chadwick begann plötzlich zu kichern.
»Ausgeschlossen! Miss Springer hatte bestimmt kein nächtliches Rendezvous.«
»Ich dachte nicht an eine amouröse Verabredung«, bemerkte der Kommissar trocken. »Ich bin der Ansicht, dass es sich um einen geplanten Mord handelt. Jemand, der beabsichtigte, Miss Springer zu töten, hatte sich, lediglich zu diesem Zweck, hier mit ihr verabredet.«
Brief von Jennifer Sutcliffe an ihre Mutter:
Liebe Mummy,
hier ist gestern Nacht jemand ermordet worden. Miss Springer, unsere Turnlehrerin – mitten in der Nacht! Die Polizei war schon da, und heute Vormittag werden wir alle verhört. Miss Chadwick hat uns verboten, darüber zu sprechen, aber dir wollte ich es doch schnell sagen.
Herzliche Grüße, deine Jennifer.
Ein Mord in einer so bekannten Schule wie Meadowbank erregte natürlich die Aufmerksamkeit des Polizeichefs. Während die üblichen Untersuchungen stattfanden, war Miss Bulstrode nicht müßig gewesen. Sie hatte sich mit einem Zeitungsbesitzer und mit dem Innenminister in Verbindung gesetzt, beide persönliche Freunde von ihr. Mithilfe dieser einflussreichen Leute war es ihr gelungen, Schlagzeilen über den Fall in den Zeitungen zu vermeiden. In der Turnhalle war eine Turnlehrerin erschossen worden. Es stand noch nicht fest, ob es sich um einen Unglücksfall oder um einen Mord handelte. Das war alles.
Ann Shapland musste Briefe an alle Eltern schreiben, denn Miss Bulstrode verließ sich nicht auf die Verschwiegenheit ihrer Schülerinnen. Sie hielt es für angebracht, mehr oder weniger blutrünstige Schilderungen der Ereignisse durch einen kühlen, sachlichen Bericht ihrerseits zu ergänzen.
Am späteren Nachmittag hatte die Schulleiterin eine Unterredung mit Stone, dem Polizeichef, und Kommissar Kelsey. Es lag auch im Interesse der Polizei, sensationelle Zeitungsberichte zu verhindern, um die Erkundigungen möglichst ungestört fortsetzen zu können.
»Sie tun mir aufrichtig leid, Miss Bulstrode«, sagte der Polizeichef. »Diese Angelegenheit muss nicht nur ein schwerer persönlicher Schock gewesen sein, sondern mag auch dem Ruf Ihrer Schule schaden.«
»Ein Mord schadet dem Ruf einer Schule unweigerlich«, erwiderte Miss Bulstrode. »Aber es ist sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir haben schon manchem Sturm standgehalten, auch diesen werden wir überleben. Ich hoffe nur, dass die Sache möglichst schnell aufgeklärt wird.«
»Ich wüsste nicht, warum uns das nicht gelingen sollte, meinen Sie nicht auch, Kelsey?«
»Es wäre natürlich besonders wichtig, etwas mehr über die Vergangenheit der Ermordeten zu erfahren«, erwiderte Kelsey nachdenklich.
»Glauben Sie wirklich?«, fragte Miss Bulstrode trocken.
»Sie mag Feinde gehabt haben«, mutmaßte Kelsey.
Miss Bulstrode schwieg.
»Glauben Sie, dass die Schule in direktem Zusammenhang mit dem Fall steht?«, fragte der Polizeichef.
»Kommissar Kelsey ist davon überzeugt, er versucht nur, meine Gefühle nicht zu verletzen«, erwiderte Miss Bulstrode.
»Ja, das Verbrechen ist auf irgendeine Weise mit Meadowbank verknüpft«, bestätigte Kelsey langsam. »Es stand Miss Springer frei, sich mit ihren Freunden an jedem beliebigen Ort außerhalb der Schule zu treffen. Warum sollte sie, mitten in der Nacht, gerade die Turnhalle als Treffpunkt wählen?«
»Gestatten Sie, dass wir die Schule und alle Nebengebäude durchsuchen, Miss Bulstrode?«, fragte Stone.
»Selbstverständlich. Ich nehme an, dass Sie hoffen, die Mordwaffe zu finden.«
»Ja. Es muss ein kleiner Revolver gewesen sein – eine ausländische Marke.«
»Eine ausländische Marke«, wiederholte Miss Bulstrode nachdenklich.
»Wissen Sie, ob eine Ihrer Schülerinnen, eine der Lehrerinnen oder einer der Angestellten einen Revolver besitzt?«
»Mir ist nichts bekannt«, erklärte Miss Bulstrode. »Ich halte es für ausgeschlossen, dass die Schülerinnen Waffen haben. Die Koffer werden bei ihrer Ankunft vom Personal ausgepackt, und das Vorhandensein eines Revolvers wäre mir umgehend gemeldet worden. Aber ich habe selbstverständlich nichts gegen eine Hausdurchsuchung einzuwenden. Das Grundstück ist, wie ich bemerkt habe, bereits von Ihren Leuten durchgekämmt worden.«
Kelsey nickte.
»So ist es. Außerdem möchte ich die Lehrerinnen und auch das Personal einzeln verhören. Vielleicht erinnert sich jemand an eine Bemerkung, die Miss Springer gemacht haben mag und die uns weiterhelfen könnte. Vielleicht ist jemandem etwas Ungewöhnliches in ihrem Benehmen aufgefallen… das bezieht sich natürlich auch auf die Schülerinnen.«
»Ich hatte vor, nach der Abendandacht eine kurze Ansprache zu halten«, sagte Miss Bulstrode. »Ich wollte die Schülerinnen bitten, zu mir zu kommen, falls sie sich an irgendetwas erinnern, das mit Miss Springers Tod in Zusammenhang stehen könnte.«
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