»Hat sie sich in die Privatangelegenheiten anderer gemischt?«
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Eileen Rich nachdenklich. »Sie hat niemandem nachspioniert, aber wenn sie auf etwas stieß, das sie nicht verstand, gab sie keine Ruhe, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war.«
»Aha.« Kelsey machte eine kurze Pause, dann fragte er: »Sie selbst mochten sie nicht, Miss Rich, nicht wahr?«
»Ich habe mir ihretwegen nicht den Kopf zerbrochen. Sie war ja nur die Turnlehrerin. Wie überheblich das klingt! Und doch hatte sie selbst diese Einstellung. Sie bemühte sich, ihren Posten gewissenhaft auszufüllen, aber das war auch alles. Sie war nicht enthusiastisch, sie besaß keinen Ehrgeiz, sie hatte keine Freude an ihrem Beruf.«
Kelsey betrachtete sie neugierig. Eine eigenartige Person, dachte er.
»Sie scheinen Ihre eigenen Ideen über die Dinge zu haben, Miss Rich.«
»Ja, das mag stimmen.«
»Seit wann sind Sie in Meadowbank?«
»Seit gut anderthalb Jahren.«
»Hat sich während dieser Zeit etwas Ungewöhnliches ereignet?«
»Nein. Bis zu Beginn dieses Schuljahrs war alles in bester Ordnung.«
»Und was ist dann geschehen – abgesehen von dem Mord natürlich?«, fragte Kelsey scharf. »Sie wollten doch andeuten, dass sich etwas verändert hat, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht…« Sie unterbrach sich. »Oder vielleicht doch… obwohl alles so unklar ist, verschwommen…«
»Fahren Sie fort!«
»Miss Bulstrode scheint seit einiger Zeit nicht sehr glücklich zu sein«, sagte Eileen langsam. »Außer mir ist es, glaube ich, keinem aufgefallen… sie ist auch nicht die Einzige, die unglücklich ist… Aber das meinen Sie wohl nicht. Sie wollten wissen, ob… ob sich die Atmosphäre verändert hat, nicht wahr?«
»Ja – irgendetwas in dieser Richtung«, bestätigte Kelsey.
»Irgendetwas ist bestimmt nicht, wie es sein soll«, sagte Eileen Rich. »Es ist, als wäre unter uns ein Mensch, der nicht zu uns gehört. Eine Katze im Taubenschlag… wir sind die Tauben, wir alle, und die Katze ist unter uns, aber wir wissen nicht, wer die Katze ist.«
»Das bringt uns leider nicht viel weiter«, meinte Kelsey skeptisch.
»Nein, natürlich nicht. Es klingt idiotisch, das weiß ich selbst. Ich wollte nur sagen, dass irgendetwas nicht stimmt, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich kann meinen Finger nicht darauflegen.«
»Denken Sie an eine bestimmte Person?«
»Nein, das sagte ich doch schon. Nur… nur irgendjemand hier gibt mir ein Gefühl der Unsicherheit. Nicht wenn ich sie ansehe, aber wenn sie mich ansieht. Entschuldigen Sie, das klingt schrecklich verworren und unlogisch. Es ist eben nur so ein Gefühl, und Sie brauchen keine Gefühle, sondern Beweise.«
»Allerdings, aber es mag etwas dran sein«, erklärte Kelsey. »Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn sich Ihre Gefühle zu einem bestimmten Verdacht verdichten sollten.«
Sie nickte.
»Selbstverständlich. Ich weiß, wie ernst die Lage ist. Der Mörder mag bereits am anderen Ende der Welt sein oder sich noch hier in der Schule aufhalten. In diesem Fall muss auch die Waffe noch hier sein… eine furchtbare Vorstellung, nicht wahr?«
Sie verließ das Zimmer mit einem höflichen Kopfnicken.
»Komplett verrückt«, stellte Sergeant Bond fest.
»Nein, ich halte sie keineswegs für verrückt«, widersprach Kelsey. »Sie scheint zu den Leuten zu gehören, die, wie man so sagt, einen sechsten Sinn haben, die fühlen, dass eine Katze im Zimmer ist, bevor sie sie gesehen haben. In Afrika wäre sie wahrscheinlich eine Medizinfrau geworden.«
»Die hören das Gras wachsen und riechen das Böse, nicht wahr?«, fragte der Sergeant.
»Stimmt«, bestätigte Kelsey. »Und ich habe die Absicht, genau dasselbe zu tun. Da uns bisher niemand konkrete Beweise geliefert hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als so lange herumzuschnüffeln, bis ich was gefunden habe. Bitte rufen Sie jetzt die Französin herein.«
Mademoiselle Angele Blanche war etwa fünfunddreißig Jahre alt. Sie war ungeschminkt, ihr dunkelbraunes Haar war ordentlich, aber unkleidsam frisiert, und sie trug ein streng geschnittenes Jackenkleid.
Es war, wie sie sagte, ihr erstes Schuljahr in Meadowbank, und sie war nicht sicher, ob sie noch für ein weiteres dableiben wollte.
»Ich liebe es nicht, zu sein in einer Schule, wo Morde passieren«, erklärte sie.
Außerdem hielt sie es für einen Fehler, dass es im ganzen Haus keine Alarmanlage gab.
»Ich glaube kaum, dass ein Einbrecher in dieser Schule Wertgegenstände vorfinden würde. Nein, ein Einbruch würde sich von seinem Standpunkt aus nicht lohnen«, meinte Kelsey.
Mademoiselle Blanche zuckte die Achseln.
»Ich bin nicht so sicher. Diese Mädchen hier – manche von ihnen haben sehr reichen Vater. Vielleicht sie besitzen Gegenstände von viel Wert. Vielleicht weiß ein Dieb darüber Bescheid, er kommt her und denkt: Hier man kann leicht stehlen.«
»Aber die Wertgegenstände der jungen Mädchen wären bestimmt nicht in der Turnhalle zu finden.«
»Wieso wissen Sie?«, fragte Mademoiselle. »Sie haben Schließfächer dort, die jungen Mädchen, nicht wahr?«
»Die Schließfächer sind nur für Sportutensilien bestimmt.«
»Mag sein, ja. Aber man kann verstecken vieles in einem Turnschuh oder es wickeln in alten Pullover oder Schal.«
»Was zum Beispiel, Mademoiselle Blanche?«
Diese Frage wusste Mademoiselle Blanche nicht zu beantworten.
»Selbst die großzügigsten Väter würden es ihren Töchtern nicht gestatten, Brillantarmbänder mit in die Schule zu nehmen«, fuhr Kommissar Kelsey fort.
»Wer weiß? Vielleicht einen anderen Wertgegenstand – einen Skarabäus zum Beispiel –, etwas, wofür ein Sammler würde geben viel Geld. Von einem Mädchen der Vater ist Archäologe.«
Kelsey lächelte.
»Ich halte das für ziemlich unwahrscheinlich, Mademoiselle Blanche.«
»War ja nur so eine Idee«, meinte sie achselzuckend.
»Haben Sie auch an anderen englischen Schulen Französisch unterrichtet, Mademoiselle Blanche?«
»In Nordengland – vor einiger Zeit. Hauptsächlich ich habe gelehrt in Frankreich und in Schweiz. Auch in Deutschland. Ich war gekommen nach England, um zu verbessern mein Englisch. Ich habe hier eine Freundin. Sie wurde krank ganz plötzlich, und sie schickte mich zu Miss Bulstrode; die war froh, so schnell zu finden einen Ersatz. Aber es gefällt mir nicht sehr gut. Wie ich schon habe gesagt, ich werde wohl nicht lange hierbleiben.«
»Warum gefällt es Ihnen hier eigentlich nicht?«, hakte Kelsey nach.
»Ich mag nicht Schulen, wo geschossen wird«, sagte Mademoiselle Blanche. »Und die Kinder haben keinen Respekt.«
»Kinder sind es doch eigentlich nicht mehr.«
»Manche haben Benehmen wie kleine Babys, manche sind wie Damen von fünfundzwanzig. Es gibt hier alle Arten. Sie haben zu viel Freiheit. Ich ziehe vor eine Schule mit Disziplin.«
»Kannten Sie Miss Springer gut?«
»So gut wie gar nicht. Sie hatte schlechte Manieren, und ich versuchte zu sprechen mit ihr möglichst wenig. Sie war Haut und Knochen und Sommersprossen und hatte eine laute, hässliche Stimme. Sie war wie Karikatur von Engländerin. Zu mir sie war oft unhöflich, und das mag ich nicht.«
»Bei welcher Gelegenheit war sie unhöflich zu Ihnen?«
»Als ich einmal wollte besichtigen die Turnhalle. Das mochte sie nicht – sie tat, als wäre es ihre Turnhalle. Aber es ist schönes neues Gebäude, und ich sehe mich einmal darin um, und da kommt Miss Springer und sagt: ›Was wollen Sie hier? Sie haben nichts zu suchen hier!‹ Hat sie gedacht, ich bin Schülerin?«, fragte Mademoiselle empört.
»Das war wirklich sehr ungezogen«, stimmte Kelsey beruhigend zu.
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