Es folgte eine lange Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Coroner unter Mithilfe des eisigen und empörten Burrows Mr. Welkyn gehörig in seine Schranken wies. Doch selbst bei diesem Rückschlag glänzte Welkyns Stirn noch vor Zufriedenheit. Er hatte angebracht, was er anbringen wollte. Er hatte das Tempo vorgegeben. Er hatte das eigentliche Schlachtfeld abgesteckt, und alle wußten das.
Er sorgte damit auch dafür, daß Molly eine Reihe von Fragen des Coroners beantworten mußte, die den Geisteszustand des Verstorbenen betrafen. Der Coroner war freundlich, aber doch fest entschlossen, alle Fakten auf den Tisch zu bringen, und Molly litt Höllenqualen. Wie die Sache stand, wurde Page allmählich klar, als der Coroner als nächstes nicht nach dem Fund der Leiche fragte, sondern Kennet Murray aufrief. Die ganze Geschichte kam ans Licht, und in der sanften, eindringlichen Art, in der Murray es vorbrachte, war das falsche Spiel des Verstorbenen so offensichtlich und eindeutig wie ein Fingerabdruck. Burrows bombardierte ihn mit Einwänden, erreichte damit jedoch nur, daß er den Coroner verärgerte.
Burrows und Page beschrieben, wie sie den Toten gefunden hatten (Page mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam). Als nächstes wurde der Arzt aufgerufen. Dr. Theophilus King sagte aus, daß er am Abend des 29. Juli, eines Mittwochs, auf einen Telefonanruf von Detective-Sergeant Burton hin nach Farnleigh Close gekommen sei. Mit einer ersten Untersuchung hatte er sich vergewissert, daß der Mann tot war. Die Leiche war ins Schauhaus gebracht worden, und am folgenden Tag hatte er auf Anordnung des Coroners zur Ermittlung der Todesursache eine Obduktion vorgenommen.
Der Coroner: Würden Sie nun bitte die Wunden beschreiben, Dr. King, die Sie am Hals des Toten fanden?
Der Doktor: Ich fand drei nicht allzu tiefe Wunden, beginnend auf der linken Seite der Kehle und endend unter dem rechten Kieferknochen. Sie verliefen in einer leichten Aufwärtsbewegung, zwei davon kreuzten einander.
C: Die Waffe wurde also von links nach rechts über die Kehle geführt?
D: So ist es.
C: Wäre das der zu erwartende Verlauf, wenn ein Mann sich selbst die Kehle durchschnitt?
D: Wenn er ein Rechtshänder war, ja.
C: War der Verstorbene Rechtshänder?
D: Nach allem, was ich weiß, ja.
C: Würden Sie sagen, es wäre unmöglich, daß der Verstorbene sich diese Wunden selbst beibrachte?
D: Keineswegs.
C: Wenn Sie nach der Art der Wunden urteilen sollten, Doktor, mit was für einer Art Waffe könnten sie zugefügt worden sein?
D: Ich würde sagen, mit einer schartigen oder ungleichmäßigen Klinge von etwa zehn bis zwölf Zentimetern Länge. Das Gewebe zeigte starke Risse. Diese Dinge lassen sich nur schwer exakt beurteilen.
C: Das wissen wir, Doktor. Ich werde gleich einen Zeugen aufrufen, der bestätigen wird, daß in einer Hecke etwa drei Meter links von dem Toten ein Messer mit einer Klinge gefunden wurde, wie Sie sie beschreiben. Haben Sie das Messer, von dem ich spreche, gesehen?
D: Das habe ich.
C: Könnte Ihrer Meinung nach das fragliche Messer am Hals des Verstorbenen Wunden hinterlassen haben, wie Sie sie beschreiben?
D: Das halte ich für möglich.
C: Nun kommen wir an einen Punkt, Doktor, der ein wenig diffizil ist. Mr. Nathaniel Burrows sagt aus, daß der Verstorbene unmittelbar vor seinem Sturz am Rand des Teiches mit dem Rücken zum Haus stand. Mr. Burrows ist – auch wenn ich ihn zu einer eindeutigen Aussage gedrängt habe – nicht in der Lage, mit Bestimmtheit zu sagen, ob der Verstorbene zu diesem Zeitpunkt allein war. Wenn – und ich sage: wenn – er allein war, könnte er eine Waffe auf eine Entfernung von etwa drei Metern von sich geworfen haben?
D: Das wäre körperlich durchaus möglich.
C: Lassen Sie uns davon ausgehen, daß er eine Waffe in der rechten Hand hatte. Könnte er diese Waffe statt nach rechts auch nach links geschleudert haben?
D: Ich habe nichts, woraus ich schließen könnte, welcher Art die letzten Zuckungen eines Sterbenden waren. Ich kann nur sagen, daß so etwas körperlich nicht unmöglich ist.
Was nach dieser beherzten Aussage noch an Zweifeln bleiben mochte, zerstreute Ernest Wilbertson Knowles. Alle kannten Knowles. Alle wußten, was er mochte, was er nicht mochte, was für ein Mensch er war. Jeder hatte sich in Jahrzehnten überzeugen können, daß dieser Mann durch und durch aufrecht war. Er berichtete, wie er vom Fenster hinuntergeblickt hatte, wie der Mann allein in dem von Hecken umstandenen Rund aus Sand gestanden hatte, wie es unmöglich gewesen war, daß ein Mörder hinzukam.
C: Sie sind sich also in Ihrem Innersten sicher, daß Sie mit angesehen haben, wie der Verstorbene sich selbst das Leben nahm?
K: Ich fürchte, ja, Sir.
C: Wie erklären Sie es sich dann, daß er ein Messer, das er in der rechten Hand hielt, nach links statt nach rechts schleuderte?
K: Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich beschreiben kann, welche Bewegungen der verstorbene Herr machte, Sir. Anfangs glaubte ich, ich könne es, aber ich habe es mir durch den Kopf gehen lassen, und nun bin ich mir doch nicht mehr sicher. Es kam alles so schnell, da hätte die Bewegung in jede Richtung gehen können.
C: Aber Sie haben nicht wirklich gesehen, wie er das Messer schleuderte?
K: Doch, Sir, ich habe den Eindruck, das habe ich.
»DONNERWETTER!« kam eine Stimme aus dem Saal. Es klang ein wenig wie wenn Tony Weller in Dickens’ »Pickwickiern« von der Galerie herab spricht. In Wirklichkeit war es jedoch Dr. Fell, der während der Zeugenaussagen laut schnaufend geschlafen hatte, das Gesicht rot und dampfend von der Hitze.
»Ruhe im Saal!« rief der Coroner.
Burrows unterzog Knowles als Anwalt der Witwe einem Kreuzverhör, und Knowles gestand ein, daß er nicht schwören könne, wirklich gesehen zu haben, wie der Verstorbene das Messer fortschleuderte. Er habe scharfe Augen, doch so scharfe Augen auch wieder nicht. Doch all das erklärte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, daß die Herzen der Geschworenen sichtlich auf seiner Seite blieben. Knowles gab zu, daß er nur über seine Eindrücke sprechen könne, und gestand auch die (entfernte) Möglichkeit eines Irrtums ein, und damit mußte Burrows sich zufriedengeben.
Alles lief auf das unvermeidliche Ende hin. Es folgten die Ermittlungsergebnisse der Polizei, eine Zusammenfassung dessen, was sich über die Schritte des Verstorbenen festhalten ließ, und noch einmal ein Resümee. In der Hitze des Schuppens, wo die Bleistifte huschten wie Spinnenbeine, war es so gut wie beschlossen, daß der Verstorbene ein Betrüger gewesen war. Blicke wurden auf Patrick Gore, den wahren Erben, geworfen. Verstohlene Blicke. Anerkennende Blicke. Mißtrauische Blicke. Auch freundliche Blicke, doch selbst die nahm er ruhig und gelassen auf.
»Meine Damen und Herren Geschworenen«, sagte der Coroner, »eine Zeugenaussage haben wir noch, für die ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten möchte, obwohl ich nicht weiß, welchen Inhalts sie sein wird. Auf Mr. Burrows’ Antrag und auf ihre eigene Bitte hin tritt die Zeugin vor, um eine wichtige Aussage zu machen, und ich vertraue darauf, daß sie Ihnen bei Ihrer schwierigen Aufgabe eine Hilfe sein wird. Ich rufe Miss Madeline Dane.«
Page fuhr zusammen.
Ein überraschtes Stimmengewirr erhob sich, und die Herzen der Reporter schlugen schneller, als sie die attraktive Zeugin sahen. Page konnte sich nicht erklären, was sie vorzubringen hatte, und das machte ihn nervös. Leute rückten zur Seite, damit sie nach vorn zum Zeugenstand kommen konnte, der Coroner reichte ihr das Buch, und sie leistete den Eid mit erregter, doch klarer Stimme. Sie kam in einem blauen Kostüm, als trage sie dezente Trauer, und das Dunkelblau des Hutes traf genau die Farbe ihrer Augen. Die angespannte Stimmung löste sich ein wenig, und auch die Geschworenen, die bisher mit hölzerner Miene dagesessen hatten, erwachten zum Leben. Man konnte nicht sagen, daß die Männer sie anlächelten, aber Page hatte doch das Gefühl, daß sie nahe daran waren. Selbst der Coroner mühte sich, es ihr auf dem Stuhl bequem zu machen. Als Liebling der männlichen Bevölkerung der Umgegend war Madeline fast konkurrenzlos, und ein anerkennendes Raunen begleitete ihren Auftritt.
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