Er war schon am Treppenabsatz, bis Elliot erwachte. Unbeeindruckt nahm der Inspektor den Faden wieder auf.
»Nun denn. Sie wollten etwas fragen, Mr. Murray?«
»Ich wollte den Automaten sehen«, erwiderte dieser eifrig. »Es ist mir nicht entgangen, daß Sie mich ein wenig außen vor lassen, seit ich den wahren Erben bestimmt habe und nicht mehr weiter nützlich bin. Das ist also die Hexe. Und die Sachen hier – erlauben Sie, daß ich sie ansehe?«
Er griff nach der Schachtel, schüttelte sie und hielt sie näher unter das vom Staub graue Licht des Fensters. Elliot studierte ihn.
»Haben Sie etwas von diesen Sachen schon einmal gesehen, Sir?«
Murray schüttelte den Kopf. »Von dieser pergamentenen Maske hatte ich gehört. Aber gesehen hatte ich sie nie. Ich frage mich …«
Und das war der Augenblick, in dem der Automat sich bewegte.
Bis heute schwört Page, daß niemand ihn anstieß. Das mag die Wahrheit sein, vielleicht täuscht er sich aber auch. Sieben Leute drängten sich auf einem engen Gang, dessen abschüssiger Fußboden zur Treppe führte. Doch das Licht war trübe, und Murray, der mit dem Rücken zu der Figur stand, zog ihre Aufmerksamkeit mit dem Stück auf sich, das er in seiner Rechten hielt. Wenn eine Hand sich regte, wenn ein Fuß oder eine Schulter nachhalf, dann bemerkte es keiner. Keiner sah, wie die verrottete Puppe auf ihrem eisernen Sofa sich mit der verstohlenen Plötzlichkeit eines Automobils in Bewegung setzte, dessen Bremse sich löst. Was sie sahen, waren drei Zentner scheppernden Eisens, die davonschossen wie ein Geschützwagen, direkt auf die oberste Treppenstufe zu. Was sie hörten, war das Kreischen der Räder, das Pochen von Dr. Fells Stock auf der Treppe und Elliots Schrei:
»Um Himmels willen, sehen Sie sich vor da unten!«
Dann der Schlag, als die Maschine über die Kante ging.
Page bekam sie zu fassen. Er umklammerte die Eisenkiste, und er hätte ebensogut versuchen können, eine Kanonenkugel aufzuhalten; aber es gelang ihm, sie aufrecht zu halten, und damit verhinderte er, daß sie Hals über Kopf die Treppe hinunterging und alles zermalmte, was ihr in den Weg kam. Die mörderische Masse blieb auf ihren Rädern. Sie flogen über die ersten Stufen, und Page sah Dr. Fell, der sich eben umblickte – auf halbem Wege. Er sah das Tageslicht in der offenen Tür am Ende der Treppe. Er sah, wie Dr. Fell, der sich in dieser Enge keinen Zentimeter regen konnte, einen Arm hob, als wolle er einen Schlag abwehren. Er sah, wie in dem infernalischen Poltern die schwarze Gestalt um Haaresbreite vorüberflog.
Doch er sah mehr als das, er sah Dinge, die niemand voraussehen konnte. Er sah, wie der Automat durch die offene Tür donnerte und auf dem Gang davor landete. Von dem Aufschlag flog ein Rad davon, doch der Schwung war zu groß. Mit einem Ruck warf sich die Maschine an die Tür gegenüber, und die Tür sprang auf.
Page stolperte die Treppe hinunter. Er brauchte den Schrei aus dem Raum gegenüber nicht zu hören. Er wußte, wer in diesem Zimmer lag und warum Betty Harbottle dort lag und was da gerade hineingekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten. Als der Automat endlich stillstand und der Lärm vorüber war, kamen die leiseren Töne wieder hervor. Einen Augenblick lang war alles still, dann hörte er deutlich die Angeln quietschen, als Dr. King die Schlafzimmertür öffnete, die wieder zugeflogen war. Das Gesicht des Arztes war weiß wie ein Laken.
»Du Teufel da oben, was hast du getan?«
DRITTER TEIL
Freitag, 31. Juli
Ein Hexensabbat
Denn das, sprach er zu sich selbst, ist letztlich der Satanskult; die Frage der äußeren Manifestationen, die seit Beginn der Welt immer wieder aufgeworfen wird, ist zweitrangig, wenn man es recht bedenkt; der Dämon hat es nicht nötig, sich in menschlicher oder tierischer Gestalt zu zeigen, um seine Gegenwart zu beweisen; es genügt, daß er seine Präsenz manifestiert, indem er Seelen zu seinem Wohnsitz wählt, die er verdirbt und zu unsäglichen Verbrechen anstachelt.
J. K. HUYSMANS, Là-Bas .
Die gerichtliche Untersuchung zum Tode von Sir John Farnleigh fand am folgenden Tag statt und endete mit einer solchen Sensation, daß die Presse in ganz Großbritannien kopfstand.
Inspektor Elliot ist, wie die meisten Polizisten, kein Freund solcher Untersuchungen, und dies aus praktischen Gründen. Brian Pages Abneigung ist eher ästhetischer Art: Man erfährt nie etwas, was man nicht vorher schon wußte, nur selten schlagen die Gefühle hoch, und das Urteil, ganz gleich, wie es ausfällt, trägt in der Regel nichts dazu bei, das Rätsel zu lösen.
Aber in diesem Falle, das mußte er zugeben, folgte die Untersuchung – die am Vormittag des 31. Juli, eines Freitags, stattfand – nicht dem üblichen Muster. Es schien von vornherein festzustehen, daß das Urteil auf Selbstmord lauten würde. Und doch war die Anspannung so groß, daß ein ausgewachsener Streit im Gange war, bevor der erste Zeuge noch zehn Worte gesagt hatte, und als das Urteil schließlich gefällt wurde, konnte Inspektor Elliot nur noch fassungslos dabeisitzen.
Page begann den Tag mit sehr schwarzem Kaffee und einem Stoßseufzer darüber, daß es nach den Ereignissen des Vortags nicht noch eine zweite solche Untersuchung gab. Betty Harbottle hatte den Schreck überstanden. Doch für eine Weile, nachdem sie der Hexe zum zweitenmal ins Auge geblickt hatte, hatte man um ihr Leben fürchten müssen, und nun war sie erst recht nicht mehr in der Lage, eine Aussage zu machen. Nach dem Sturz hatte Elliot alle Anwesenden unerbittlich verhört, doch alles drehte sich im Kreise. »Haben Sie ihm den Stoß gegeben?« – »Nein, das schwöre ich; ich weiß nicht, wer es war; wir standen auf dem schiefen Fußboden, und vielleicht ist es ja von selbst losgegangen.«
Elliot und Dr. Fell saßen bis spätabends bei Pfeife und Bier beisammen, und Elliot hielt Resümee. Page hatte Madeline nach Hause gebracht, darauf bestanden, daß sie etwas aß, einen hysterischen Anfall im Keime erstickt, und bei allem waren ihm tausend Dinge zugleich durch den Kopf gegangen. Als er wieder eintrat, war der Inspektor eben beim Fazit angelangt.
»Wir stecken fest«, sagte er. »Wir können nicht das mindeste beweisen, und das bei allem, was geschehen ist! Victoria Daly wird ermordet – vielleicht von einem Landstreicher, vielleicht auch nicht; andere finstere Machenschaften sind anscheinend im Spiel, auf die wir jetzt nicht eingehen müssen. Das war vor einem Jahr. Sir John Farnleigh wird mit durchschnittener Kehle gefunden. Betty Harbottle wird auf eine Weise, über die wir nichts wissen, ›angegriffen‹ und vom Dachboden nach unten geschafft; ihre zerrissene Schürze findet sich oben in der Bücherkammer. Ein Heft mit Fingerabdrücken verschwindet und kommt zurück. Schließlich versucht noch jemand, Sie zu ermorden, indem er diese Maschine die Treppe hinunterstößt – ein Versuch, dem Sie nur um Haaresbreite und mit der Gnade Gottes entgangen sind.«
»Und ich weiß es zu schätzen, das können Sie mir glauben«, versicherte Dr. Fell ihm grimmig. »Es war einer der schlimmsten Augenblicke meines Lebens, als ich mich umblickte und dieses Monstrum auf mich zukommen sah. Ich war selbst schuld daran. Ich habe zuviel geredet. Und doch …«
Elliot sah ihn aufmerksam an.
»Immerhin ist es ein Beweis, Sir, daß Sie auf der richtigen Spur waren. Der Mörder begriff, daß Sie zuviel wußten. Worum es sich bei dieser Spur handelt … Sir, wenn Sie Vermutungen haben, wäre es an der Zeit, es mir zu sagen. Wenn sich nicht bald etwas Neues ergibt, werde ich nach London zurückbeordert.«
»Oh, Sie werden es bald erfahren«, brummte Dr. Fell. »Ich will ja kein Geheimnis daraus machen. Aber selbst wenn ich Ihnen sage, was ich vermute, und selbst wenn es sich als richtig herausstellt, hätten wir immer noch keinen Beweis. Und in einer Beziehung weiß ich nicht, ob Sie sich nicht täuschen. Es schmeichelt mir, gewiß. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Automat wirklich die Treppe hinuntergestoßen wurde, um mir, wie es so schön heißt, das Lebenslicht auszublasen.«
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