»Weswegen denn sonst? Der Täter konnte nicht damit rechnen, daß er das Mädchen noch einmal erschrecken konnte, Sir. Es war nicht abzusehen, daß die Maschine zur Tür ihres Zimmers hereinkommen würde.«
»Ich weiß«, sagte Dr. Fell stur und fuhr sich mit den Fingern durch den üppigen graumelierten Haarschopf. »Und doch – und doch – welchen Beweis …«
»Das meine ich ja gerade. Wir haben eine ganze Kette von Ereignissen, die alle miteinander zusammenhängen, und nicht ein einziges darunter, bei dem ich etwas beweisen kann! Ich habe nichts in der Hand, womit ich zu meinen Vorgesetzten gehen kann: ›Hier, bitte sehr‹. Kein Indiz, das sich nur so und nicht auch anders deuten ließe. Ich kann nicht einmal beweisen, daß die Sachen überhaupt miteinander zusammenhängen – und das ärgert mich besonders. Nehmen Sie die gerichtliche Untersuchung morgen. Selbst das, was wir selbst vorlegen, fordert ja geradezu zum Urteil auf Selbstmord heraus …«
»Läßt sich die Untersuchung nicht verschieben?«
»Natürlich. Normalerweise hätte ich das getan und immer wieder neu Aufschub gefordert, bis wir entweder beweisen können, daß es Mord war, oder die Sache ganz fallenlassen. Aber da haben wir den letzten und größten Haken. Was habe ich denn von weiteren Ermittlungen noch zu erhoffen, so wie die Dinge jetzt stehen? Der Superintendent ist so gut wie überzeugt, daß Sir John Farnleighs Tod ein Selbstmord war, und der Assistant Commissioner auch. Als sie nun noch hörten, daß sich auf dem Taschenmesser, das Burton in der Hecke entdeckt hat, Spuren von Fingerabdrücken des Toten fanden …«
(Davon hatte Page noch nichts gehört, und damit schien der Urteilsspruch auf Selbstmord so gut wie besiegelt.)
»… war die Sache praktisch entschieden«, bestätigte Elliot ihm. »Worauf kann ich denn noch hoffen?«
»Betty Harbottle?« schlug Page vor.
»Gut, stellen wir uns vor, sie erholt sich und kann ihre Geschichte erzählen. Stellen wir uns vor, sie berichtet, wie sie jemanden oben in der Bücherkammer gesehen hat. Und was tat er da? Und was soll das zu bedeuten haben? Was hat das mit dem Selbstmord im Garten zu tun? Beweise, mein Junge. Das Heft mit den Fingerabdrücken, kann uns das weiterhelfen? Keiner hat je behauptet, daß es aus dem Besitz des Toten stammt; was hat es also überhaupt mit dem Fall zu tun? Nein, Sir; Sie dürfen es nicht vernünftig ansehen – sehen Sie es mit den Augen eines Juristen an. Es steht hundert zu eins, daß ich am Abend zurückgerufen werde, und der Fall kommt zu den Akten. Sie und ich, wir wissen, daß hier ein Mörder umgeht und sich so raffiniert getarnt hat, daß er tun und lassen kann, was er will, bis ihm jemand das Handwerk legt – oder ihr. Und scheinbar gibt es niemanden, der das kann.«
»Und was werden Sie jetzt tun?«
Elliot stürzte einen halben Krug Bier hinunter, bevor er antwortete.
»Für meine Begriffe gibt es nur eine Chance: die Untersuchung vor dem Coroner mit allem, was dazugehört. Die meisten unserer Verdächtigen werden als Zeugen aussagen. Eine gewisse Hoffnung besteht, daß einer von ihnen sich unter Eid verplappern wird. Keine große Hoffnung, das gebe ich zu – aber so etwas ist schon vorgekommen (erinnern Sie sich an Waddington, die Krankenschwester?), und es könnte noch einmal geschehen. Wenn nichts anderes weiterführt, bleibt uns das als letztes.«
»Wird der Coroner mitspielen?«
»Wenn ich das wüßte«, sagte Elliot nachdenklich. »Dieser Burrows führt etwas im Schilde, das weiß ich. Aber er vertraut sich mir nicht an, und ich habe nichts aus ihm herausbekommen können. Er ist beim Coroner gewesen, aber ich weiß nicht, weswegen. Wenn ich es recht verstanden habe, mögen Burrows und der Coroner sich nicht besonders, und der Mann war auch kein Freund des verstorbenen ›Farnleigh‹. Persönlich ist er anscheinend überzeugt, daß es Selbstmord war, aber er wird fair spielen, und sie werden alle gegen den Außenseiter zusammenhalten – das bin ich. Das Ironische ist, daß Burrows ja selbst gern beweisen würde, daß es Mord war, denn ein Urteil auf Selbstmord kann man mehr oder weniger auch als Urteil nehmen, daß sein Klient ein Hochstapler war. Das Ganze wird eine einzige große Boulevardkomödie um verschollene Erben werden, und wie sie ausgeht, steht schon fest: Selbstmord, ich werde abberufen, und die Geschichte ist erledigt.«
»Na, na«, sagte Dr. Fell tröstend. »Übrigens, wo ist eigentlich der Automat geblieben?«
»Sir?«
Elliot riß sich aus seinem Selbstmitleid und starrte sein Gegenüber an.
»Der Automat? Den habe ich in einen Schrank geschoben. Nach den Stößen, die er abbekommen hat, bleibt da wohl nur noch der Schrottplatz. Ich wollte ihn ja gern noch genauer untersuchen, aber ich fürchte, selbst der beste Mechaniker wird jetzt nicht mehr herausfinden können, wie er funktioniert hat.«
»So ist es«, seufzte Dr. Fell und griff nach seiner Kerze für den Nachttisch. »Deswegen hat der Mörder ihn ja die Treppe hinuntergestoßen.«
Page verbrachte eine unruhige Nacht. Außer der Untersuchung gab es noch andere Dinge am nächsten Tag, die ihm Sorgen machten. Nat Burrows, dachte er, hatte nicht das Kaliber seines Vaters; selbst Dinge wie die Vorkehrungen für das Begräbnis hatte er an Page delegiert. Anscheinend war Burrows ganz mit einem anderen Aspekt der Affäre beschäftigt. Und ihm ging die Frage durch den Kopf, ob man Molly »allein« in einem Haus von so sinistrer Atmosphäre lassen konnte, zumal die Dienerschaft fast geschlossen mit Kündigung drohte.
All diese Dinge quälten ihn, bis die Sonne zu einem heißen und strahlenden Tag aufging. Die Flut der Automobile setzte gegen neun Uhr ein. Er hatte noch nie so viele Wagen auf einmal in Mallingford gesehen; erst als er die Massen an Vertretern von Presse und Welt draußen einfallen sah, begriff er, welches Aufsehen dieser Fall jenseits ihrer Haustür erregt hatte. Es ärgerte ihn. Schließlich ging das, fand er, niemand anderen etwas an. Es fehlte nur noch, daß sie Schaukeln und Karussells aufstellten und heiße Würstchen feilboten. Sie stürmten den Bull and Butcher, in dessen »Saal« – einem langgestreckten Schuppen, in dem sich sonst die Arbeiter vergnügten, die zur Hopfenernte kamen – die Verhandlung stattfinden sollte. An der Straße glitzerten unzählige Objektive in der Sonne. Viele der Schaulustigen waren Frauen. Der Hund des alten Mr. Rowntree jagte jemanden die ganze Straße hinunter bis zu Major Chambers; er bellte den ganzen Vormittag über wie toll, und niemand konnte ihn beruhigen.
Zwischen all dem bewegten sich die Einheimischen ohne ein Wort. Sie legten sich nicht fest. Jeder auf dem Lande ist auf die anderen angewiesen, man tauscht Dinge, hilft sich gegenseitig; in einem Fall wie diesem mußte man abwarten, was geschah, so daß alle auch nachher in Frieden miteinander leben konnten, ganz gleich, wie die Sache ausging. Von der Welt draußen hingegen kam der Tumult von DER TOTE ERBE – OPFER ODER BETRÜGER?, und um elf Uhr an jenem heißen Vormittag nahm die gerichtliche Untersuchung des Todesfalls ihren Anfang.
Der lange, niedrige, düstere Schuppen war vollgepackt mit Menschen. Es war, dachte Page, eindeutig ein Anlaß für einen gestärkten Kragen. Der Coroner, der die Untersuchung leitete – ein wackerer Jurist, der fest entschlossen war, sich keinerlei Launen der Farnleighs gefallen zu lassen –, hatte vor einem großen Stoß Papier an einem breiten Tisch Platz genommen, zu seiner Linken einen Stuhl für die Zeugen.
Zuerst wurde Lady Farnleigh aufgerufen, die als Witwe bezeugen mußte, daß es sich bei dem Toten wirklich um Sir John Farnleigh handelte. Schon hier – in der Regel nur eine Formalität – wurde Einspruch erhoben. Molly hatte kaum ein paar Worte gesprochen, als sich Mr. Harold Welkyn, im Gehrock, eine Gardenie im Knopfloch, im Namen seines Klienten erhob. Mr. Welkyn führte aus, aus formaljuristischen Gründen müsse er gegen die Identifizierung protestieren, da es sich bei dem Toten nicht um Sir John Farnleigh gehandelt habe; und da die Frage nach der Identität von entscheidender Bedeutung für das Urteil darüber sei, ob der Verstorbene sich selbst das Leben genommen habe oder ob er das Opfer eines Verbrechens geworden sei, bitte er respektvoll um Erlaubnis, diesen Punkt dem Gericht unterbreiten zu dürfen.
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