Diese Ängste haben natürlich im Laufe der Zeit nachgelassen. Er überzeugte sich davon, daß er einfach Pech gehabt hatte, daß solche Dinge schon einmal vorkommen können und so weiter. Der Weltkrieg und all das folgten. Er konsultierte einen Spezialisten, der ihm nach langen psychologischen Tests versicherte, daß er wirklich John Farnleigh sei und sich darum keine Sorgen mehr zu machen brauche. Aber den Schrecken der Jugendjahre überwand er nie wirklich, und selbst als er glaubte, nun sei es überstanden, träumte er noch davon.
Dann begann alles wieder neu, als der arme Dudley starb und er Titel und Besitz erbte. Er mußte nach England kommen. Er hatte – wie soll ich das sagen? – ein wissenschaftliches Interesse daran. Er sagte sich, wenn er dorthin zurückkam, mußte er sich doch erinnern. Aber er erinnerte sich nicht. Sie alle wissen, wie er umherwanderte wie ein Geist, ein armer alter Geist, der nicht einmal mehr wußte, ob er nun überhaupt ein Gespenst war oder nicht. Sie wissen, wie reizbar er war. Er war gerne hier. Er liebte jeden Flecken und jeden Winkel dieser Gegend. Verstehen Sie mich nicht falsch – er hat nicht wirklich daran gezweifelt, daß er John Farnleigh war. Aber er wollte GEWISSHEIT.«
Madeline biß sich auf die Lippe.
Mit leuchtenden Augen ließ sie ihren nun recht harten Blick über die Zuschauer schweifen.
»Ich habe mit ihm geredet und immer wieder versucht, ihn zu beschwichtigen. Er solle nicht so verzweifelt darüber nachdenken, sagte ich, dann werde ihm vielleicht eher etwas einfallen. Ich habe es so eingerichtet, daß ich ihn an etwas erinnerte, und machte ihm weis, er selbst sei es, dem es eingefallen sei. Etwa ein Grammophon, das in der Ferne eine Melodie spielte, und ihm fiel wieder ein, daß wir als Kinder danach getanzt hatten. Manchmal waren es Kleinigkeiten im Haus. In der Bibliothek gibt es eine Art Schrank – ein Bücherregal, in die Fensterwand eingebaut –, aber in Wirklichkeit ist es eine Tür, durch die man hinaus in den Garten kann. Auch heute noch, wenn man eine Feder an der richtigen Stelle drückt. Ich habe ihn so lange dirigiert, bis er sie gefunden hatte. Nächtelang, sagte er mir, habe er danach gut schlafen können.
Doch immer weiter quälte ihn die Ungewißheit. Sollte er erfahren, daß er nicht John Farnleigh sei, werde es ihm nichts ausmachen, sagte er – wenn er es nur endlich mit Sicherheit wisse. Schließlich sei er kein grüner Junge mehr – er werde es schon mit Fassung aufnehmen; und nichts auf der Welt wünsche er sich mehr, als endlich die Wahrheit zu wissen.
Er fuhr nach London und konsultierte noch zwei weitere Ärzte, das weiß ich. Wie verzweifelt er war, das können Sie daran sehen, daß er sogar einen Mann aufsuchte, dessen Name seinerzeit in aller Munde war und von dem es hieß, er habe übersinnliche Kräfte – einen gewissen Ahriman, einen gräßlichen kleinen Kerl in der Half-Moon Street. Er ist mit einigen von uns dorthin gefahren, und wir taten so, als ließen wir uns die Zukunft weissagen und machten uns darüber lustig. Aber er erzählte diesem Wahrsager seine ganze Geschichte.
Immer noch zog er ruhelos durch die Gegend. ›Nun, wenigstens hüte ich das Erbe gut‹, sagte er immer, und das werden ihm alle bestätigen. Auch in der Kirche konnte man ihn oft finden; am meisten mochte er die Kirchenlieder, und manchmal, wenn sie ›Abide with Me‹ spielten – jedenfalls, wenn er an der Kirche vorüberkam, blickte er jedesmal empor, und dann stöhnte er: Könnte ich doch nur einmal …«
Madeline hielt inne.
Ihre Brust hob sich mit einem tiefen Seufzer. Ihr Blick war fest auf die vordersten Sitzreihen geheftet, und ihre Hände, die Armrücken auf den Stuhllehnen, hatte sie weit geöffnet. Sie schien in diesem Augenblick ganz Leidenschaft, ganz Geheimnis, tief wie Wurzeln und ebenso stark; und doch war sie ja nur eine Frau, die sich in einem heißen, stickigen Schuppen, so gut sie konnte, für einen toten Freund einsetzte.
»Es tut mir so leid«, preßte sie hervor. »Vielleicht sollten wir über all das lieber nicht reden; es tut ja auch nichts zur Sache. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Ihnen Ihre Zeit mit Dingen raube, die zu nichts führen …«
»Darf ich um Ruhe bitten!« rief der Coroner und ließ den Blick über die Reihen der Zuschauer wandern, die zunehmend unruhiger wurden. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das, was Sie uns erzählen, wirklich nichts zur Sache tut. Gibt es noch etwas, was die Geschworenen wissen sollten?«
»Ja«, sagte Madeline und wandte sich zu ihnen um. »Eines noch.«
»Und das wäre?«
»Als ich hörte, daß ein Herausforderer mit seinem Anwalt kommt und daß sie Anspruch auf den Besitz erheben, da wußte ich, was in Johns Kopf vorging. Sie wissen nun, was ihn die ganze Zeit über quälte. Sie können seine Gedanken und jedes Wort, das er sprach, Schritt für Schritt verfolgen. Sie wissen nun, warum er lächelte und warum ihn die Erleichterung beinahe überwältigte, als er den Herausforderer davon sprechen hörte, wie auf der untergehenden Titanic die Schläge mit dem Seemannshammer fielen. Ihn hatten diese Schläge getroffen, sein Hirn hatten sie gelähmt, daß er fünfundzwanzig Jahre lang sein Gedächtnis verloren hatte.
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich will nicht behaupten, daß die Geschichte des Herausforderers nicht wahr ist. Das weiß ich nicht und kann ich nicht entscheiden. Doch Sir John – der Mann, den Sie immer nur den Verstorbenen nennen, als sei er nie lebendig gewesen – muß ungeheuer erleichtert gewesen sein, als er etwas hörte, was für seine Begriffe ja auf keinen Fall die Wahrheit sein konnte. Endlich schien sein Traum sich zu erfüllen, und seine Identität sollte bewiesen werden. Nun werden Sie auch verstehen, warum er mit Freuden zustimmte, als der Vorschlag kam, die Fingerabdrücke zu nehmen. Sie werden verstehen, warum er bei dieser Zusammenkunft der eifrigste von allen war. Sie werden verstehen, warum seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren und warum er es gar nicht erwarten konnte, das Ergebnis zu hören.«
Madeline umklammerte die Lehnen ihres Stuhls.
»Bitte. Vielleicht erkläre ich es Ihnen schlecht, aber ich hoffe, daß Sie mich verstehen. Sich Gewißheit zu verschaffen, ob nun in die eine oder in die andere Richtung, war für ihn das Wichtigste im Leben. Wenn er wirklich Sir John Farnleigh war, würde er glücklich bis ans Ende seiner Tage leben. Und wenn er es nicht war, würde er auch damit zurechtkommen, wenn nur endlich die Unsicherheit vorbei war. Es war wie beim Fußballtoto. Man setzt einen Sixpence. Man malt sich aus, daß man Tausende und Abertausende gewinnt. Man ist sich so gut wie sicher, man könnte schwören, daß man gewonnen hat. Aber Gewißheit hat man erst, wenn das Telegramm kommt. Und wenn die Frist um ist und kein Telegramm ist gekommen, dann denkt man: »Na, dann eben nicht«, und die Sache ist vergessen. Und so war es bei John Farnleigh. Dies hier war sein Fußballtoto. Anstand und Ehre und jede Nacht gut schlafen können: das war sein großer Preis. Das Ende der Qual, der Anfang der Zukunft: das war die Hoffnung. Und in dem Augenblick war er sich sicher, daß er gewonnen hatte. Und da wollen die Leute uns weismachen, er hätte sich umgebracht. Glauben Sie das nicht, keine Sekunde lang. Sie wissen es besser. Wollen Sie denn wirklich glauben, wollen Sie es wagen zu glauben, daß er sich selbst die Kehle durchschnitt, eine halbe Stunde, bevor er das Ergebnis erfahren hätte?«
Sie legte sich die Hand vor die Augen.
Nun folgte ein regelrechter Tumult, doch der Coroner brachte die Menge zum Verstummen. Mr. Harold Welkyn hatte sich erhoben. Page sah, daß sein glänzendes Gesicht ein wenig fahl geworden war, und er sprach, als sei er außer Atem.
»Mr. Coroner. Als Plädoyer für den Verstorbenen hat dieser Vortrag gewiß seinen rhetorischen Wert«, setzte er grimmig an. »Ich werde nicht so impertinent sein, Sie an Ihre Pflichten zu erinnern. Ich werde nicht so impertinent sein, Sie darauf hinzuweisen, daß während der letzten zehn Minuten nicht eine einzige Frage mehr gestellt wurde. Aber wenn die Zeugin mit ihren bemerkenswerten Ausführungen zu Ende gekommen ist – die, wenn sie die Wahrheit sind, belegen, daß der Verstorbene ein noch größerer Hochstapler war, als wir alle glaubten –, dann bitte ich als Vertreter des wahren Sir John Farnleigh um die Erlaubnis zum Kreuzverhör.«
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