Elliot sah ein wenig benommen aus, wozu er ja auch guten Grund hatte.
»Einen Augenblick, Miss Dane. Was wollen Sie uns denn nun sagen – daß er der Hochstapler war oder daß er es nicht war?«
»Aber das weiß ich nicht! Ich weiß nicht, ob er es war oder nicht!«
»Von allen Seiten«, klagte Dr. Fell, »bricht dieser Mangel an Information über uns herein. Wir werden geradezu überflutet davon. Aber lassen wir es vorerst dabei. Nur in einem Punkt hätte ich meine Neugier noch gern befriedigt. Was hat es mit dieser Puppe auf sich?«
Madeline zögerte.
»Ich weiß nicht, ob sie noch da ist«, sagte sie und starrte mit fasziniertem Blick das Fenster an. »Johns Vater hielt sie in einer Dachkammer unter Verschluß, zusammen mit den – Büchern, die er nicht sehen wollte. Die Farnleighs früherer Zeiten waren ja recht üble Gesellen, das wissen Sie vielleicht, und Sir Dudley fürchtete immer, daß bei John die alte Art wieder ausbräche. Obwohl ich nicht fand, daß es an dieser Figur etwas Sinistres oder Gefährliches gab.
Einmal – nur einmal habe ich sie gesehen. John hatte seinem Vater den Schlüssel gestohlen, und wir stiegen hinauf bis ganz nach oben, mit einer Laterne, die abgedunkelt war bis auf einen schmalen Lichtstrahl. Er erzählte mir, die Tür sei schon seit Generationen nicht mehr geöffnet worden. Es heißt, früher sei die Figur wie lebendig gewesen und so schön wie eine echte Frau; sie saß auf einer gepolsterten Truhe in einem Kleid der Restaurationszeit. Doch als ich die Figur sah, war sie alt und schwarz und runzlig und jagte mir einen großen Schrecken ein. Wahrscheinlich hatte sie seit über hundert Jahren niemand mehr angerührt. Aber was das für eine Geschichte war, derentwegen die Leute sich vor ihr fürchteten, das weiß ich nicht.«
Es war etwas an ihrem Tonfall, das Page ein wenig beklommen machte, denn er wußte nicht, was er davon halten sollte: Bisher hatte er Madeline noch nie so sprechen hören. Und mit Sicherheit hatte er noch nie von dieser »Puppe« oder »Figur« gehört, was immer sie war.
»Es muß ein raffinierter Apparat gewesen sein«, fuhr Madeline fort, »aber ich verstehe bis heute nicht, warum sie ihn verteufelt haben. Haben Sie schon einmal von Kempelens oder Maelzels mechanischem Schachspieler gehört? Oder Maskylenes ›Zoe‹ oder ›Psycho‹, dem Whistspieler?«
Elliot schüttelte den Kopf, auch wenn er aufmerksam zuhörte; und Dr. Fell war so begeistert, daß ihm der Zwicker von der Nase fiel.
»Sie wollen doch nicht sagen …« hob er an. »Beim Archon von Athen, hätte man so etwas zu hoffen gewagt! Die Automaten, die Sie nennen, gehörten zu den besten in einer Reihe von beinahe lebensgroßen Figuren, die ganz Europa fast zweihundert Jahre lang in Staunen versetzten. Haben Sie nie von dem Cembalo gelesen, das von allein spielte? Ludwig XIV. hat es sich vorführen lassen. Oder von der Figur, die Kempelen baute und Maelzel vorführte, die einst im Besitz von Napoleon war und später beim Brand eines Museums in Philadelphia verlorenging? Jedem, der ihn sah, kam es vor, als sei Maelzels Apparat lebendig. Er spielte Schach mit dem Publikum, und meistens gewann er. Es gab verschiedene Spekulationen darüber, wie er funktionierte – Poe hat einen Aufsatz dazu verfaßt –, aber für meine einfältigen Begriffe gibt es bis heute keine befriedigende Erklärung. ›Psycho‹ steht heute in London im Museum. Sie wollen doch nicht sagen, daß es eine solche Figur auf Farnleigh Close gibt?«
»Doch. Deshalb hätte ich ja auch gedacht, daß dieser Mr. Murray danach gefragt hätte«, beharrte Madeline. »Wie gesagt, was für eine Geschichte dahintersteckt, weiß ich nicht. Der Automat wurde zu Zeiten Karls II. in England ausgestellt und dann von einem Farnleigh erworben. Ich weiß nicht, ob er auch Karten oder Schach spielte, aber er konnte sich bewegen und sprach. Als ich ihn sah, war er, wie gesagt, alt und schwarz und runzlig.«
»Und – ahemm – diese Sache, daß er zum Leben erweckt würde?«
»Ach, das war nur ein Unsinn, den John erzählt hat, als er noch ein dummer Junge war. Das war nicht ganz ernst gemeint. Ich habe nur überlegt, was jemandem über ihn aus den alten Zeiten im Gedächtnis geblieben sein könnte. Die Dachkammer, in der die Figur stand, war voller Bücher, und es waren – nun, böse, verruchte Bücher« – wieder errötete sie –, »und das war für John die größte Attraktion. Das Geheimnis, wie man die Puppe zum Sprechen brachte, war in Vergessenheit geraten, und ich nehme an, das war es, was er meinte.«
Auf Pages Schreibtisch klingelte das Telefon. Er war so in die Betrachtung Madelines versunken gewesen – des Winkels, in dem sie ihren Kopf hielt, der Willensstärke, die aus ihren dunkelblauen Augen sprach –, daß er im ersten Augenblick gar nicht wußte, wo das Telefon stand. Doch als er Burrows’ Stimme am anderen Ende vernahm, war sein Verstand sofort wieder wach.
»Um Himmels willen«, rief Burrows, »ihr müßt sofort hier herüber zum Haus kommen! Bring den Inspektor und Dr. Fell mit!«
»Immer mit der Ruhe!« antwortete Page, der spürte, wie ein unangenehmes Kribbeln sich auf seiner Brust ausbreitete. »Was ist los?«
»Also zunächst einmal haben wir das Heft mit den Fingerabdrücken wieder …«
»Was? Wo?«
Nun sahen alle ihn an.
»Eins von den Dienstmädchen – Betty – weißt du, welche ich meine …?« Burrows zögerte.
»Ja; was ist mit ihr?«
»Betty war verschwunden, und keiner wußte, was aus ihr geworden war. Sie suchten im ganzen Haus nach ihr – das heißt überall, wo sie nach ihren Vorstellungen sein konnte. Keine Betty. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander, denn Knowles war ebenfalls nicht da – ich weiß nicht, warum. Schließlich hat Mollys Zofe sie dann im Grünen Zimmer gefunden, wo Betty eigentlich nichts zu suchen hatte. Betty lag auf dem Boden, das Heft in der Hand. Aber das ist noch nicht alles. Ihr Gesicht hatte sich dermaßen verfärbt und sie atmete so schwer, daß wir den Arzt geholt haben. Der alte Dr. King macht sich Sorgen. Betty ist noch immer nicht bei Bewußtsein, und es wird lange dauern, bis sie uns etwas sagen kann. Körperlich ist sie unverletzt, aber King sagt, es ist eindeutig genug, was ihren Zustand verursacht hat.«
»Und?«
Wieder zögerte Burrows.
»Furcht«, sagte er.
In der Bibliothek von Farnleigh Close hatte Patrick Gore sich auf der Fensterbank niedergelassen und rauchte eine schwarze Zigarre. Bei ihm saßen Burrows, Welkyn und ein schläfrig wirkender Kennet Murray. Inspektor Elliot, Dr. Fell und Brian Page hatten am Tisch Platz genommen.
Sie hatten einen verschüchterten, konfusen Haushalt vorgefunden, um so verschüchterter, da der unerwartete Schreck mitten an einem ruhigen Nachmittag gekommen war, und um so konfuser, da der Butler unauffindbar gewesen war.
Einzelheiten? Was sie denn mit Einzelheiten meinten? Die Bediensteten, die Elliot vernahm, verstanden überhaupt nicht, wonach er fragte. Sie war doch nur ein einfaches Hausmädchen, Betty Harbottle, und hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Seit dem Mittagessen hatte niemand sie mehr gesehen. Als die festgesetzte Zeit kam, zu der sie und Agnes, ein weiteres Hausmädchen, die Fenster zweier Schlafzimmer im Obergeschoß putzen sollten, hatte Agnes sich auf die Suche nach ihr gemacht. Erst um vier Uhr hatten sie sie gefunden. Um vier Uhr war Teresa – Lady Farnleighs Zofe – ins Grüne Zimmer gegangen, das Arbeitszimmer des verstorbenen Sir John, und hatte sie auf dem Boden liegend gefunden, an einem Fenster mit Blick über den Garten. Sie lag auf der Seite, das Heft mit dem Pappumschlag in der Hand. Sie hatten Dr. King aus Mallingford kommen lassen, und das Gesicht, das der Doktor gemacht hatte, hatte den Haushalt ebensowenig beruhigt wie Bettys eigene Miene. Dr. King war nach wie vor bei seiner Patientin.
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