»Glauben Sie, was Knowles sagt?«
»Oh, es ist ihm hundertprozentig ernst damit; daran werden Sie so wenig zweifeln wie ich. Aber er ist ein alter Mann. Und keins von uns Kindern hat er so abgöttisch verehrt wie Molly (ihr Vater, müssen Sie wissen, hat Knowles’ Mutter einmal das Leben gerettet), und an zweiter Stelle kam der junge John Farnleigh. Ich weiß noch, daß er einmal einen langen, spitzen Hexenhut für John gebastelt hat, aus blau lackierter Pappe mit silbernen Sternen und allem, was dazugehört. Mit dem, was er wußte und sah, hätte er sich nicht Molly anvertrauen können; das hätte er nicht fertiggebracht. Deshalb kam er zu mir. Das tun sie ja alle – zu mir kommen, meine ich. Und ich versuche immer, für alle zu tun, was ich kann.«
Dr. Fell runzelte die Stirn. »Aber ich überlege doch … hmpf … Sie kannten John Farnleigh damals recht gut, nicht wahr? Wie ich höre« – hier strahlte er –, »gab es eine Sandkastenfreundschaft zwischen Ihnen beiden?«
Sie verzog das Gesicht.
»Sie wollen mir zu verstehen geben, daß ich allmählich ins reifere Alter komme. Ich bin fünfunddreißig. Ungefähr jedenfalls; Sie dürfen mich nicht nach Einzelheiten fragen. Nein, eigentlich hat es zwischen uns nie eine Freundschaft gegeben. Nicht daß ich etwas dagegen gehabt hätte, aber er fand mich nicht interessant genug. Ein- oder zweimal hat er mich – geküßt, im Obstgarten und im Wald. Aber er hat immer gesagt, ich hätte nicht genug vom alten Adam in mir – oder war es die alte Eva? Jedenfalls war ich ihm zu brav.«
»Aber geheiratet haben Sie nie?«
»Oh, das ist unfair!« rief Madeline, bekam rote Wangen und lachte dann. »Sie sagen es, als säße ich mit trüben Augen in der Kaminecke, das Strickzeug in der Hand …«
»Miss Dane«, sagte Dr. Fell mit pompöser Feierlichkeit, »das ist nicht wahr. Ich sehe die Bewerber in Trauben vor Ihrer Tür stehen, in Schlangen so lang wie die Chinesische Mauer; ich sehe die nubischen Sklaven, wie sie sich unter der Last gewaltiger Pralinenschachteln beugen; ich sehe – ahemm. Lassen wir das.«
Schon seit langem hatte Page niemanden mehr wirklich erröten sehen; er hätte geglaubt, daß die Veranlagung dazu etwa zur gleichen Zeit wie die Dronte ausgestorben war; aber es war ihm doch nicht unangenehm, daß Madeline jetzt errötete. Denn was sie sagte, war:
»Wenn Sie glauben, ich hätte mich all die Jahre in romantischer Sehnsucht nach John Farnleigh verzehrt, dann irren Sie sich.« Ihre Augen funkelten. »Ich habe mich immer ein wenig vor ihm gefürchtet, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich ihn wirklich mochte – damals.«
»Damals.«
»Ja. Später verstanden wir uns gut – aber nicht mehr als das.«
»Miss Dane«, sagte Dr. Fell, brummte es aus seiner Kaskade von Kinnen und machte eine merkwürdige Kopfbewegung dazu, »ein Vöglein in meinem Inneren zwitschert mir, daß Sie mir etwas sagen wollen. Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet. Meinen Sie, Farnleigh war ein Hochstapler?«
Sie zuckte leicht mit den Händen.
»Dr. Fell, mir liegt nichts daran, in Rätseln zu sprechen, das können Sie mir glauben. Und ich denke, ich kann Ihnen auch eine Antwort geben. Aber könnten Sie – oder einer der anderen – mir vorher sagen, was sich gestern abend im Herrenhaus zugetragen hat? Bevor diese gräßliche Geschichte geschehen ist, meine ich. Was haben die beiden gesagt und getan, als sie noch beide behaupteten, sie seien Sir John Farnleigh?«
»Wir können uns Ihre Geschichte getrost noch ein weiteres Mal anhören, Mr. Page«, sagte Elliot.
Page erzählte sie, mit so vielen Feinheiten und Eindrücken, wie ihm nur einfielen. Madeline nickte ein paarmal mit dem Kopf; sie atmete schwer.
»Jetzt sage mir noch eins, Brian: Was hat dich bei der ganzen Befragung am meisten beeindruckt?«
»Die absolute Gewißheit beider Kandidaten«, antwortete Page. »Farnleigh zögerte ein- oder zweimal, aber bei Punkten, die mir nebensächlich schienen; doch als er wirklich auf die Probe gestellt wurde, war er mit Feuereifer dabei. Nur ein einziges Mal hat er gelächelt oder ein erleichtertes Gesicht gemacht. Das war, als Gore ihn anschuldigte, er habe ihn an Bord der Titanic mit einem Seemannshammer erschlagen wollen.«
»Noch eine Frage bitte.« Madeline atmete heftiger denn je. »Hat einer von beiden etwas über die Puppe gesagt?«
Es folgte eine Pause. Dr. Fell, Inspektor Elliot und Brian Page sahen einander verständnislos an.
»Die Puppe?« fragte Elliot und räusperte sich. »Was für eine Puppe?«
»Darüber, wie man sie zum Leben erwecken kann? Oder etwas über das ›Buch‹?« Dann war es, als verberge sich ihr Gesicht hinter einer Maske. »Oh, es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte das nicht sagen sollen – aber ich hätte gedacht, es müßte das erste sein, was zur Sprache kommt. Vergessen Sie es.«
Dr. Fell neigte sein Löwenhaupt und betrachtete sie mit heiterer und munterer Miene.
»Meine liebe Miss Dane«, brummte er, »Sie erwarten ein Wunder. Sie fordern ein Wunder, das größer ist als jedes, das in jenem Garten geschehen sein mag. Führen Sie sich vor Augen, was Sie von uns verlangen. Sie sprechen von einer Puppe, davon, daß sie womöglich zum Leben erweckt werde, Sie munkeln von etwas, das Sie das ›Buch‹ nennen, und geben uns zu verstehen, daß all das mit dem Rätsel zu tun hat, das uns so sehr beschäftigt. Sie sagen, Sie hätten gedacht, es müsse das erste sein, was zur Sprache käme. Und dann fordern Sie uns auf, es zu vergessen. Denken Sie denn, ein gewöhnlicher Mensch, fiebernd vor Neugier, könnte …«
Madeline stellte sich stur.
»Aber nicht mich hätten Sie danach fragen sollen«, protestierte sie. »Im Grunde weiß ich überhaupt nichts darüber. Die anderen hätten Sie fragen müssen.«
»›Das Buch‹«, sagte Dr. Fell nachdenklich. »Das wird doch nicht das ›Rote Buch von Appin‹ sein?«
»Doch, ich glaube, ich habe später gehört, daß es so genannt wird. Ich habe etwas darüber gelesen. Es ist eigentlich kein Buch, sondern ein Manuskript; jedenfalls hat John mir das einmal erzählt.«
»Moment«, unterbrach Page. »Murray hat danach gefragt, und beide schrieben ihm Antworten auf. Gore sagte mir später, es sei eine Fangfrage gewesen, und ein ›Rotes Buch von Appin‹ gebe es nicht. Wenn es aber nun doch existiert, dann wüßten wir, daß Gore der Hochstapler ist, oder?«
Dr. Fell schien im Begriff, etwas zu sagen, und zwar mit einiger Erregung oder Vehemenz; doch dann holte er tief durch die Nase Luft und blieb still.
»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Elliot. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß nur zwei Menschen für dermaßen viel Zweifel und Verwirrung sorgen können. Im einen Augenblick ist man noch sicher, daß der eine der Echte ist, im nächsten genauso sicher, daß es der andere ist. Und wie Dr. Fell schon gesagt hat – solange wir in diesem Punkt keine Gewißheit haben, werden wir auch nicht weiterkommen. Ich hoffe doch, Miss Dane, Sie versuchen nicht, dieser Frage auszuweichen. Die Antwort sind Sie uns immer noch schuldig: Sind Sie der Ansicht, daß der verstorbene Farnleigh ein Hochstapler war?«
Madeline warf den Kopf in den Nacken, daß sie gegen die Lehne ihres Sessels schlug. Eine so unkontrollierte Bewegung, ein solches Zeichen von Erregtheit, hatte Page nie zuvor an ihr gesehen. Sie öffnete die rechte Hand, dann schloß sie sie wieder.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete sie hilflos. »Ich kann es nicht. Jedenfalls nicht, bevor ich nicht mit Molly gesprochen habe.«
»Aber was hat Lady Farnleigh mit uns zu tun?«
»Es geht darum, daß er mir – Sachen erzählt hat. Dinge, die er nicht einmal ihr anvertraut hat. Nun machen Sie doch nicht ein so schockiertes Gesicht!« (Schockiert war Elliots Gesicht nicht; er sah sie nur gespannt an.) »Und Sie sollten auch nicht die Klatschgeschichten glauben, die Sie womöglich gehört haben. Aber zuerst muß ich mit Molly sprechen. Schließlich hat sie an ihn geglaubt. Natürlich war Molly gerade erst sieben Jahre alt, als er von hier fortging. Was sie noch von ihm wußte, waren ja nicht mehr als vage Erinnerungen an den Jungen, der sie mit ins Zigeunerlager genommen hatte, wo sie auf einem Pony reiten lernte und besser mit Steinen werfen als jeder Mann. Nebenbei gesagt, ein Streit um den Farnleigh-Titel und den Landbesitz würde sie nicht groß scheren. Dr. Sutton war ja kein einfacher Landarzt; er hat fast eine halbe Million hinterlassen, und das ist Mollys Privatvermögen. Und ich hatte oft das Gefühl, daß sie nie wirklich gern Herrin auf Farnleigh Close gewesen ist; eine solche Aufgabe liegt ihr einfach nicht. Sie hat ihn nicht wegen seines Rangs oder seines Vermögens geheiratet, und es wäre ihr gleichgültig gewesen, ob er nun Farnleigh oder Gore hieß oder sonst etwas – und jetzt allemal. Warum hätte er es ihr also sagen sollen?«
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