«Ich habt nicht mehr Rechte, als ich sie Euch zugestehe», fuhr Licinius sie unfreundlich an. «Benehmt Euch, Frau, und beantwortet die Frage. Wo habt Ihr diesen Fachbegriff aufgeschnappt?»
Die Frau duckte sich ängstlich.
«Was soll daran denn verwerflich sein?» jammerte sie. «Der Grieche hat gesagt, das sei mein gutes Recht. Immerhin war er so anständig, mir eine Münze zu geben, als er den Sack aus dem Zimmer des toten Bruders geholt hat.»
Fidelma sah sie eindringlich an. «Ein Grieche? Aus welchem Zimmer hat er einen Sack geholt?»
Die Frau blinzelte. Offenbar wurde ihr klar, daß sie zuviel gesagt hatte.
«Heraus damit, Frau», herrschte Licinius sie an. «Oder ich stecke Euch in eine Zelle. Dort könnt Ihr dann schmoren und Euch über Eure Rechte Gedanken machen.»
Die Frau zitterte. «Na schön ... er hat Osimo Landos Zimmer durchsucht und ist mit einem Sack fortgegangen.»
«Ein Grieche, sagt Ihr?» drängte Licinius. «Der Besitzer der Herberge? Der Grieche Diakon Bieda? Habt Ihr ihm nicht von dem strengen Befehl erzählt, ohne unsere Erlaubnis nichts aus den beiden Zimmern zu entfernen?»
«Nein, nein», widersprach die Frau kopfschüttelnd. «Ich meine nicht diesen Dreckskerl Bieda, sondern den griechischen Medikus aus dem Lateranpalast. Den kennt doch jeder.»
Fidelma zuckte erstaunt zusammen. «Der griechische Medikus aus dem Lateranpalast? Cornelius? Cornelius von Alexandria?»
«Genau der», bestätigte die Frau mit finsterem Blick. «Er hat mich über meine Rechte aufgeklärt.»
«Und wann war das?» fragte Fidelma.
«Vielleicht vor einer Stunde.»
«Sobald er von Osimos Selbstmord gehört hatte, schätze ich», sagte Eadulf.
«Und als er das Zimmer verließ, hatte er einen Sack dabei?»
Die Frau nickte zerknirscht.
«Was war das für ein Sack? War er groß oder klein?»
«Mittelgroß. Ich glaube, es war Metall drin, jedenfalls hat es bei jedem Schritt geklirrt», erklärte die Frau, offenbar darauf bedacht, ihre Verfehlungen wieder wettzumachen. «Er versprach mir für jedes der fünf Bücher in Osimos Schrank einen se-stertius , wenn ich sie in meiner Kammer verstecken würde, bis er sie abholt. Drei hatte ich schon hinübergetragen, als Ihr kamt. Die anderen beiden haltet Ihr in Händen.»
«Warum hat er das wohl getan?» wollte Fidelma wissen.
«Weil er die Bücher und den Sack nicht gleichzeitig tragen konnte», antwortete die Frau, die ihre Frage mißverstanden hatte.
Fidelma wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Eadulf sie triumphierend unterbrach: «Cornelius war also die ganze Zeit über an der Tat beteiligt!»
«Das werden wir noch sehen», erwiderte Fidelma. «Holt die drei Bücher, die Ihr aus Osimo Landos Zimmer genommen habt, Frau.»
Widerwillig folgte die Herbergsmutter ihrem Befehl. Es waren alte griechische Bücher, unschwer als medizinische Traktate zu erkennen. Fidelma schüttelte erstaunt den Kopf. Der Weg zu Wig-hards Mörder schien mit alten medizinischen Texten gepflastert zu sein.
«Wißt Ihr, wo Cornelius wohnt?» wandte sich Fidelma an Licinius.
«Ja. Er besitzt eine kleine Villa beim Dolabella-und Silanus-Bogen. Soll ich die custodes rufen?»
«Nein. Wir sind noch immer weit von einer Lösung unseres Rätsels entfernt, Licinius. Nachdem wir unsere Funde sicher in unserem officium verstaut haben, werden wir zu Cornelius’ Villa gehen und hören, was er zu der Sache zu sagen hat.»
Die Frau sah von einem zum anderen und versuchte, den Sinn ihrer Worte zu verstehen.
«Und was ist mit mir?» fragte sie ein wenig selbstbewußter, da die Gefahr einer Haftstrafe abgewendet war.
«Ihr hütet Eure Zunge», antwortete Licinius streng. «Und wenn ich zurückkomme und feststelle, daß Ihr in den beiden Zimmern sonst noch irgend etwas angerührt habt - wenn auch nur ein Faden von einer Wolldecke oder einer Kakerlake auf dem Fußboden fehlt -, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Euch nie wieder Sorgen um Eure Mieten zu machen braucht. Ihr werdet für den Rest Eures Lebens mietfrei in dem schlimmsten Gefängnis wohnen, das ich für Euch auftreiben kann. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?»
Die Frau murmelte etwas Unverständliches und zog sich in ihre Kammer zurück.
Draußen tadelte ihn Fidelma sanft: «Ihr seid unnötig hart mit ihr ins Gericht gegangen.»
Licinius verzog finster das Gesicht. «Leute wie sie muß man so behandeln. Diese Bauerntölpel haben nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich an Geld zu kommen.»
«Wahrscheinlich ist das ihre einzige Möglichkeit, der Armut zu entfliehen», entgegnete Fidelma. «Ihre Herrscher führen ihnen Tag für Tag vor, daß sich die Erlösung nur durch weltlichen Ruhm erlangen läßt. Warum ihnen die Schuld dafür geben, daß sie diesem Beispiel folgen, solange sie keine besseren Vorbilder haben?»
«Ich habe schon von Euren eigenwilligen Ansichten gehört», brummte Licinius. «Sind das nicht die Lehren des Ketzers Pelagius?»
«Wir halten uns einzig und allein an die Lehren Jesu Christi. Das ist das Wort unseres Herrn, wie Lukas es uns überliefert hat.»
Licinius errötete. Eadulf, der seine Verlegenheit spürte, sprang für ihn in die Bresche.
«Wir sollten uns besser beeilen und die Bücher rasch ins officium bringen. Dann suchen wir nach Cornelius.»
«Ja. Wir müssen die Bücher unbedingt an einem sicheren Ort aufbewahren», stimmte Fidelma zu. «Ich habe das Gefühl, daß sie für unseren Fall von allergrößter Bedeutung sind.»
Eadulf und Licinius sahen sie fragend an, aber sie gab ihnen keine weitere Erklärung.
Cornelius von Alexandrias Villa lag nicht weit entfernt auf dem Celius-Hügel, wo Kaiser Nero einst den alten, Dolabella und Silanus geweihten Triumphbogen in einen Aquädukt zum nahegelegenen Palatin hatte umwandeln lassen. Von der Nordseite des Hügels hatte man einen großartigen Blick auf das Colosseum, und von Cornelius’ Villa sah man über ein kleines Tal zum Palatin mit seinen alten, einzigartigen Bauwerken. Eadulf hatte Fidelma erzählt, daß die Geschichte der Stadt Rom mit der Besiedlung des Palatin begonnen hatte. Dort hatten all die bedeutenden Bürger der römischen Republik gewohnt und später die despotischen Cäsaren ihre überladenen Paläste erbaut. Auch die ostgotischen Könige hatten vom Palatin aus geherrscht, und erst nach und nach hatten christliche Kirchen ihre heidnischen Tempel ersetzt.
«Was meint Ihr, wie wir vorgehen sollten?» fragte Eadulf, als der noch immer ein wenig verstimmte Furius Licinius ihnen die Villa gezeigt hatte.
Fidelma zögerte. Sie wußte es nicht. Ja, insgeheim bedauerte sie ihren raschen Entschluß, sich zu Cornelius’ Villa zu begeben. Vielleicht hätte sie Licinius’ Vorschlag annehmen und eine decuria der Palastwachen herbeirufen sollen. Schon legte die Abenddämmerung sich über die Stadt. Warum hatte sie Cornelius nicht von den custodes zur Befragung in ihr officium bringen lassen? Aber es gab noch immer so vieles, was sie nicht verstand. Jede Antwort warf ein halbes Dutzend neuer Fragen auf.
«Nun?» fragte Eadulf.
Doch noch ehe sie Gelegenheit zu einer Antwort erhielt, geschah etwas, das weiteres Nachgrübeln überflüssig machte.
Sie standen auf der anderen Straßenseite, gegenüber den Holztoren, die zum Park der Villa führten. Offenbar war Cornelius von Alexandria ein wohlhabender Mann. Plötzlich gingen die Tore auf, und zwei Träger mit einer lecticula kamen heraus. Unwillkürlich duckten sich Fidelma, Eadulf und Licinius in den Schatten. Cornelius lehnte sich bequem in der Sänfte zurück. Auf seinem Schoß hielt er deutlich sichtbar einen Leinensack.
Die Träger liefen in westlicher Richtung den Hügel hinunter auf eine prächtige Kirche zu.
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