Eadulf eilte hinaus. Sie hörte ihn mit den beiden Trägern sprechen, die offenbar keine Ahnung hatten, was vorgefallen war. Schweigend betrachtete sie den auf seinem Stuhl völlig in sich zusammengesunkenen Chirurgus aus Alexandria. Eadulf befahl den Trägern, draußen zu warten.
«Er kann nicht schwer verletzt sein. Die Träger sagen, er sei den beiden Flüchtigen nachgelaufen», berichtete Eadulf, als er kurz darauf ins Lagerhaus zurückkehrte.
«Nun, Cornelius von Alexandria», sagte Fidelma mit betont ruhiger Stimme, «ich denke, Ihr seid uns eine Erklärung schuldig.»
Seufzend ließ der Chirurgus das Kinn noch tiefer auf seine Brust sacken.
Wenig später kam Licinius herein.
«Sie sind wie vom Erdboden verschluckt», sagte er ärgerlich.
«Seid Ihr verletzt?»
«Nein. Bei ihrer Flucht haben sie mir die Tür gegen den Kopf gestoßen und mich fast umgerannt. Wenn dieser Mann nicht redet, werden wir sie wahrscheinlich nicht mehr einfangen können.»
Er richtete die Spitze seines gladius auf den Griechen.
«Das ist nicht nötig, tesserarius», murmelte Cornelius. «Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten. Das ist die reine Wahrheit. Ihr müßt mir glauben!»
«Warum sollten wir das?» fragte Furius Licinius und traktierte ihn wieder mit seinem Schwert.
«Beim Heiligen Kreuz, es ist die Wahrheit, auch wenn ich es nicht beweisen kann. Sie haben mir jedesmal einen anderen Treffpunkt genannt. Ich habe keine Ahnung, woher sie kommen.»
Fidelma sah, daß der Mann nicht log. Er war viel zu bestürzt, weil er ertappt worden war. Sein üblicher Hochmut war wie weggeblasen.
Eadulf hob die Lampe auf, bemerkte, daß nicht alles Öl ausgelaufen war und entzündete sie mit Hilfe seiner Kerze.
«Eadulf, gebt dem guten Chirurgus etwas Wein, um seine Lebensgeister zu wecken», bat ihn Fidelma.
Wortlos goß Eadulf etwas Wein aus der Amphore, die den Sturz vom Tisch unbeschadet überstanden hatte, in einen Becher und reichte ihn dem Griechen. Mit einem spöttischen Lächeln hob Cornelius das Gefäß. «Bene vobis !» rief er aus und kippte den Wein in einem Schluck hinunter.
Fidelma bückte sich und hob einen Kelch auf, der offenbar aus dem Sack gefallen war. Bis auf dieses eine Stück hatten sich die geflüchteten Araber der gesamten Beute bemächtigt. Fidelma nahm auf einem der Stühle Platz. Eadulf stellte sich neben sie, während Furius Licinius mit gezücktem Schwert an der Tür Posten bezog.
Eine Weile lang drehte Fidelma schweigend den Kelch in der Hand. «Ihr leugnet nicht, daß dieser Kelch aus Wighards Schatztruhe stammt? Ich bin sicher, Eadulf würde ihn sofort wiedererkennen.»
Cornelius schüttelte ängstlich den Kopf. «Nein, ich leugne es nicht. Es ist einer der Kelche, den Wighard aus Kent mitgebracht hat, um sie von Seiner Heiligkeit segnen zu lassen.»
Fidelma antwortete nicht gleich, um den Medi-cus ein wenig schmoren zu lassen.
«Verstehe», sagte sie dann. «Ihr habt die gestohlenen Schätze dazu benutzt, Bücher zu kaufen, die Euch diese Araber angeboten haben?»
«Das wußtet Ihr? Ja, es sind Bücher aus der alexandrinischen Bibliothek», gab Cornelius bereitwillig zu. Eine Spur von Trotz mischte sich in seine Stimme. «Seltene medizinische Texte von unschätzbarem Wert, die sonst für die zivilisierte Welt für immer verloren gegangen wären.»
Fidelma stellte den Kelch auf den Tisch. «Einen Teil Eurer Geschichte kenne ich», sagte sie und erntete dafür erstaunte Blicke von Licinius und Bruder Eadulf. «Am besten erzählt Ihr mir jetzt den Rest.»
«Tja, das kann jetzt wohl auch nichts mehr schaden», stimmte Cornelius niedergeschlagen zu. «Der junge Osimo und sein Freund Ronan sind tot. Ich wurde ertappt, habe aber zumindest einige Bücher gerettet.»
«Allerdings», bestätigte Fidelma. «Fünf habt Ihr in Osimo Landos Zimmer zurückgelassen, eins hat Ronan an seinem Arbeitsplatz versteckt, und eins halte ich hier in meiner Hand. Aber was ist mit den Kostbarkeiten, die Wighard gehörten? Was ist von denen geblieben?»
Cornelius zuckte die Achseln. «Die letzten Stücke befanden sich in dem Sack, den die Araber mitgenommen haben.»
«Und im Tausch dafür habt Ihr nichts anderes bekommen als ein paar alte Bücher?» fragte Furius Licinius ungläubig.
Cornelius’ Augen leuchteten auf.
«Von einem Soldaten wie Euch erwarte ich dafür kein Verständnis. Die Bücher sind viel mehr wert als alles Gold und Silber der Welt. Ich habe Erasistratus von Ceos’ Werk über den Ursprung der Krankheiten, Galens Physiologie und mehrere Werke von Hippokrates wie Die heilige Krankheit, Epidemien, seine Aphorismen und außerdem He-rophilus’ Kommentare zu Hippokrates gerettet.» In seiner Stimme schwang tiefe Genugtuung mit. «Die großen Schätze der medizinischen Literatur! Wie sollte ich erwarten, daß Ihr ihren Wert erkennt, der doch sehr viel höher ist als der Wert all dessen, was ich dafür eingetauscht habe.»
Fidelma lächelte sanft. «Aber das, was Ihr dafür eingetauscht habt, gehörte nicht Euch, Cornelius von Alexandria, sondern Wighard, der nach Rom gekommen war, um sich zum nächsten Erzbischof von Canterbury weihen zu lassen. Sagt uns, wie es in Euren Besitz gekommen ist!»
Cornelius sah erst sie, dann Eadulf und schließlich Licinius an und sagte schlicht: «Ich habe Wighard nicht umgebracht.»
«ICH MUß BETONEN, DAß ICH IN ER-
st er Linie Alexandriner bin.» Der Chirurgus warf sich in die Brust, als könnte diese Aussage alles erklären. «Unsere Stadt ist vor neunhundert Jahren von dem großen Alexander von Mazedonien gegründet worden. Ptolemaios I. legte den Grundstein zu der berühmten Bibliothek, die laut Kalli-machos’ Katalog einst siebenhunderttausend Bände umfaßte. Als Julius Cäsar in Alexandria einfiel, brannte das Hauptgebäude ab, und viele Bücher wurden zerstört. Es konnte nie bewiesen werden, aber dem Gerücht nach ging die Zerstörung auf kleinliche römische Mißgunst zurück. Doch die Bibliothek ist wieder aufgebaut worden und galt in den letzten sechshundert Jahren auch weiterhin als eine der größten der Welt.»
«Was hat das alles mit Wighards Tod zu tun ...?» unterbrach ihn Eadulf ungeduldig, weniger an Cornelius als an Fidelma gewandt, die den Ausführungen des Griechen mit gespannter Aufmerksamkeit folgte.
Fidelma hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sichtlich verärgert über die Unterbrechung nahm der griechische Chirurgus seinen Faden wieder auf.
«Die Bibliothek in Alexandria war die größte der Welt», betonte er noch einmal, «und ich habe vor vielen Jahren in Alexandria an der großen, von Herophilus und Erasistratus fast zur gleichen Zeit wie die Bibliothek gegründeten Schule der Medizin studiert. Nachdem ich meine Studien beendet und einige Jahre in Alexandria praktiziert hatte, wurde ich als Lehrer an die Schule berufen. Dann brach die schreckliche Katastrophe über uns herein, und die Welt geriet aus den Fugen.»
«Was für eine Katastrophe meint Ihr, Cornelius?» fragte Fidelma.
«Die arabischen Anhänger der neuen Religion, die der Prophet Mohammed einige Jahrzehnte zuvor begründet hatte, zogen in Scharen von ihrer angestammten Halbinsel im Osten aus, um einen unerbitterlichen Eroberungskrieg anzuzetteln. Ihre Führer hatten sie zum dschihad, zum heiligen Krieg gegen all jene aufgerufen, die sie kafir nannten -, die sich nicht zu Mohammeds Religion bekennen wollten. Vor zwanzig Jahren kamen sie auch nach Ägypten, fielen in Alexandria ein und brannten alles nieder. Viele von uns mußten fliehen und anderswo auf der Welt Zuflucht suchen. Mir gelang es, eine Koje auf einem Schiff nach Rom zu ergattern, und das letzte, was ich von meiner Heimatstadt sah, waren die hohen, weißen Mauern der alexandrinischen Bibliothek, die gemeinsam mit den unermeßlichen geistigen Schätzen in Rauch und Flammen aufgingen.»
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