Licinius sah sie entgeistert an. Bisher hatte noch niemand gewagt, eine solche Frage zu stellen.
«Ich habe mir nur gerade vorgestellt», fuhr Fidelma fort, «wie Helena als Pilgerin in ein fremdes Land kam, um nach heiligen Reliquien zu suchen. Als die Kaufleute dieses Landes davon hörten, haben sie ihr die passenden Dinge angeboten - natürlich erst, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß sie auch gut dafür zahlen wollte.»
«Aber das ist Gotteslästerung!» rief Licinius empört. «Der Herr war mit ihr, um sie vor solchen Scharlatanen zu schützen! Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, daß Helena betrogen wurde und diese Gegenstände wertlos sind?»
«Ich bin jetzt seit über einer Woche in Rom und habe mit eigenen Augen gesehen, wie dutzendweise ähnliche Reliquien an gläubige Pilger verkauft wurden, die sich bereitwillig von ihrem sauer ersparten Geld trennten, um ein Stück von der echten Fußfessel des heiligen Petrus mit nach Hause zu nehmen! Und all diese Reliquien, versichert man uns, seien echt. Ich sage Euch, Licinius, wenn man all das Holz vom wahren Kreuz Jesu, das derzeit in Rom verhökert wird, zusammensetzen würde, entstünde daraus das wunderbarste und größte Kreuz, das die Welt je gesehen hat.»
Eadulf faßte sie am Arm und mahnte sie mit einem stummen Blick, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein.
Licinius war zutiefst entrüstet. «Die heilige Helena hat die Echtheit all dieser Reliquien höchstpersönlich bestätigt», widersprach er.
«Das bezweifle ich nicht», entgegnete Fidelma lächelnd.
«Ich fürchte, wir haben jetzt nicht genug Zeit, um diese Fragen ausführlich zu erörtern», unterbrach sie Eadulf besorgt. «Wir können ja später noch einmal zurückkehren und über Helenas Reise ins Heilige Land debattieren.»
Der junge tesserarius biß sich auf die Lippe, schluckte seinen Ärger hinunter und führte sie weiter zu einem Seitentor in der Mauer, die das gesamte, zum Lateranpalast gehörende Gelände umgab. Von dort aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Aquädukt und zu Biedas Herberg e.
Wie bei ihrem letzten Besuch wurden sie auch diesmal von der Herbergsmutter mit wütenden Be-schimpfüngen empfangen.
«Wie soll ich überleben, wenn alle meine Gäste auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen und Ihr mir verbietet, ihre Zimmer weiterzuvermieten? Wo bleibt meine Miete? Wo bleibt mein Lebensunterhalt?»
Furius Licinius wies sie mit grober Stimme zurecht, und nachdem die Frau ihnen den Weg zu Osimo Landos Kammer gewiesen hatte, zog sie sich fluchend in ein Seitenzimmer zurück. Fidelma war nicht überrascht, als sie erfuhr, daß Osimo gleich gegenüber von Ronan gewohnt hatte. Sein Zimmer wirkte sehr viel ordentlicher als das des irischen Mönchs. Es war zwar ebenfalls dunkel und schmuddelig, aber Osimo Lando hatte versucht, das Beste daraus zu machen. In einer Ecke stand sogar eine Vase mit welkenden Blumen, und über dem Bett hingen einige hübsch gerahmte griechische Worte, die Fidelma zum Schmunzeln brachten. Offenbar hatte Osimo Lando Humor gehabt. Die Zeilen stammten aus dem 84. Psalm: «Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; sie loben dich immerdar.»
Sie fragte sich, was es angesichts der Verwahrlosung und der schlampigen Haushaltsführung der Herbergsmutter hier wohl zu loben gab.
«Wonach suchen wir?» fragte Licinius, der auf der Schwelle stehengeblieben war.
«Das weiß ich auch nicht so genau», räumte Fidelma ein.
«Osimo muß sehr belesen gewesen sein», sagte Eadulf, der einen kleinen Wandschrank geöffnet hatte. «Schaut her.»
Fidelmas Augen weiteten sich beim Anblick der beiden Bücher und mehrerer beschriebener Blätter.
«Das sind sehr alte Texte», stellte sie fest, nahm eines der Bücher heraus und las den Titel. «Seht Euch das an. De Acerba Tuens. Das hat Erasistratus von Ceos geschrieben.»
«Ich dachte immer, das Buch sei beim großen Brand in der Bibliothek von Alexandria vernichtet worden», sagte Eadulf.
«Diese Bücher sollten unbedingt an einem sicheren Ort aufbewahrt werden», meinte Fidelma.
«Ich werde mich darum kümmern», erwiderte Licinius steif. Offenbar grollte er ihr noch immer wegen ihrer Zweifel an der Echtheit des Vermächtnisses der heiligen Helena.
Fidelma blätterte die beschriebenen Seiten durch. Es lag auf der Hand, daß Osimo und Ronan eine sehr enge Freundschaft verbunden hatte. Es waren Gedichte, die von Liebe und Treue handelten, die meisten von Osimo verfaßt und Ronan gewidmet. Anscheinend hatte Osimo nach dem Tod des Freundes keinen Sinn mehr im Leben gesehen. Fidelma verspürte Trauer um sie beide.
«Beginnt alles, was ihr tut, in Liebe», flüsterte sie beim Lesen eines der Gedichte.
Eadulf runzelte die Stirn. «Was habt Ihr gesagt?»
Fidelma lächelte. «Ich dachte nur an eine Zeile aus Paulus’ Brief an die Korinther.»
Verwirrt sah Eadulf sie an, dann durchsuchte er weiter Osimos Zimmer. «Sehr viel mehr gibt es hier nicht, Fidelma», sagte er. «Jedenfalls nichts, was uns bei der Lösung unseres Rätsels helfen könnte.»
«War Osimo vielleicht in den Mord an Ronan verwickelt gewesen?» fragte Furius Licinius.
«Nicht als Täter», erwiderte Fidelma. Sie wollte gerade zum Aufbruch mahnen, als ihr plötzlich etwas ins Auge stach.
«Was ist das, Eadulf?» wollte sie wissen und zeigte auf den Boden.
Der Sachse folgte ihrem Blick. Von dem groben Holzbett halb verborgen, entdeckte er einen Gegenstand. Er bückte sich, um ihn aufzuheben.
«Das ist der abgebrochene Fuß eines goldenen Kelchs», rief er überrascht aus, nachdem er ihn untersucht hatte. «Ich erkenne ihn wieder. Er stammt von dem Kelch, den Cenewealh von Westsachsen gestiftet hat, um ihn von Seiner Heiligkeit segnen zu lassen. Seht Ihr die Inschrift auf dem Boden?»
«», las Fidelma. «
«Cenewealh bat Wighard, eine passende Inschrift auszuwählen und eingravieren zu lassen. Obwohl der obere Teil fehlt, erkenne ich ihn wieder.»
Licinius sah ihn ratlos an. «Also wurden Wig-hards Schätze in diesem Zimmer aufbewahrt? Und Osimo und Ronan waren Komplizen?»
Fidelma kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, eine schlechte Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen konnte. «Auf jeden Fall hatten die beiden Zugriff zu der Diebesbeute», räumte sie ein.
«Also müssen sie auch an dem Mord beteiligt gewesen sein», folgerte Eadulf.
«Aber eines ist seltsam ...» Fidelma schien noch immer tief in Gedanken versunken. Endlich richtete sie sich auf. «Wir können hier nichts mehr ausrichten. Licinius, nehmt diese Bücher mit. Und, Eadulf, Ihr steckt den abgebrochenen Fuß des Kelches ein. Wir müssen einige Überlegungen anstellen.»
Eadulf und Licinius sahen einander fragend an und folgten ihr schweigend die Treppe hinunter.
Unten wartete schon die schimpfende Herbergsmutter. «Wann kann ich die Zimmer weitervermieten? Es ist nicht meine Schuld, daß die beiden ums Leben gekommen sind. Warum soll ich dafür bestraft werden?»
«Ein, zwei Tage müßt Ihr Euch schon noch gedulden», versuchte Furius Licinius, sie zu beruhigen.
Die Frau grunzte verächtlich. «Ich sehe, daß Ihr Sachen wegtragt, die nach Recht und Gesetz mir zustehen, als bonorum veditio sozusagen», keifte sie.
Beim unerwarteten Gebrauch dieses lateinischen Rechtsbegriffes merkte Fidelma auf.
«Hattet Ihr denn viele Gäste, deren Eigentum Ihr als Ausgleich für ausstehende Mietzahlungen beschlagnahmen mußtet?» fragte sie.
Nur mit Mühe verstand die Frau Fidelmas korrektes, aber fremdländisch klingendes Latein. Sie schürzte die schmalen Lippen und schüttelte den Kopf. «Nein. Meine Gäste zahlen immer pünktlich.»
«Und wo habt Ihr dann diesen Ausdruck ... bonorum veditio . her?»
Die Frau runzelte die Stirn. «Was geht Euch das an? Ich kenne eben meine Rechte.»
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