Nachdenklich betrachtete Fidelma das Papyrusstück. «Wo könnten wir jemanden finden, der in der Lage wäre, diese Sprache zu entziffern?»
«Im munera peregrinitatis vielleicht?»
Fidelma bedachte ihn mit einem raschen Seitenblick. Erst jetzt dämmerte Eadulf, was er gesagt hatte.
«Das Amt, in dem unser Freund Ronan Ragal-lach gearbeitet hat», stellte er fest. Dann zuckte er die Achseln. «Aber ob das eine Rolle spielt.»
Es klopfte leise an die Tür.
Fidelma ließ Papyrus und Sackleinen in ihr mar-supium gleiten.
«Das werden wir noch sehen», sagte sie, dann rief sie laut: «Ja, bitte? Herein!»
Ein dünner, drahtiger Mann mit dunklem Haar und fahlem Gesicht trat ins Zimmer. Er schielte ein wenig auf einem Auge, so daß Fidelma unsicher war, wie sie ihn anschauen sollte. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, obwohl sie es zunächst nicht einordnen konnte.
Eadulf dagegen erkannte den Geistlichen sofort. «Bruder Sebbi!»
Der Mann lächelte. «Von den custodes hörte ich, daß Ihr mich sprechen wollt, und da ich gerade mit dem Abendessen fertig bin, fragte ich, wo ich Euch finden könnte.»
«Kommt und setzt Euch, Bruder Sebbi», forderte Fidelma ihn auf. «Ihr habt uns die Mühe erspart, nach Euch schicken zu lassen. Ich bin Fidelma ...»
«... von Kildare. Ich weiß. Ich war in Witebia, als Ihr und Bruder Eadulf den Mord von Äbtissin Etain aufklärtet.» Er hielt inne und sah betreten zu Boden. «Eine schlimme Sache. Sehr, sehr schlimm.»
«Dann wißt Ihr also, womit wir diesmal befaßt sind, Bruder Sebbi?» fragte Fidelma.
Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. «Im ganzen Lateranpalast wird kaum noch über etwas anderes gesprochen, Schwester. Bischof Gelasius hat Euch und Bruder Eadulf beauftragt, die Hintergründe von Wighards Tod aufzuklären, so wie König Oswiu Euch in Witebia gebeten hat, Äbtissin Etains Mörderin dingfest zu machen.»
«Wir wüßten gern, wo Ihr Euch zur Tatzeit aufgehalten habt», schaltete sich Eadulf ein.
Sebbis Grinsen wurde noch breiter. «Im Bett, wie jeder vernünftige Mensch.»
Fidelma betrachtete ihn mit ernster Miene.
«Und seid Ihr ein vernünftiger Mensch, Bruder Sebbi?»
Einen Augenblick lang wurde Sebbi ernst, dann kehrte sein Grinsen zurück. «Ich sehe, Ihr habt Sinn für Humor, Schwester. Ja, ich lag in meinem Bett und schlief. Ein Geräusch im Korridor hat mich geweckt. Ich ging hinaus und sah mehrere custodes vor Wighards Tür. Ich fragte, was los sei, und sie sagten es mir.»
«War sonst noch jemand da? Abt Puttoc zum Beispiel?»
Sebbi schüttelte den Kopf.
«Aber Euch hat das Geräusch geweckt?»
«Ja.»
«Es war also ziemlich laut?»
«Natürlich. Es wurde gerufen, und die Soldaten liefen hin und her.»
«Hat es Euch nicht überrascht, daß Abt Puttoc, der in dem Zimmer gleich neben Eurem cubiculum schlief, sich durch all dies in seinem Schlaf nicht stören ließ?»
Eadulf streifte Fidelma mit einem besorgten Seitenblick. Hegte sie Zweifel an Puttocs Aussage, bloß weil der Abt sie anmaßend behandelt hatte?
«Nein.» Sebbi beugte sich über den Tisch. «Der Abt ist dafür bekannt, daß er Abend für Abend einen Schlaftrunk nimmt, weil er an Schlaflosigkeit leidet. Er stopft sich mit Arzneien voll wie andere Menschen mit Lebensmitteln.»
«Wißt Ihr das nur vom Hörensagen, Sebbi, oder ist das eine Tatsache?» fragte Fidelma.
Sebbi machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ich habe fünfzehn Jahre lang in Stang-grund unter Abt Puttoc gedient. Ich kenne ihn in-und auswendig. Fragt Eanred, seinen Diener. Es ist eine Tatsache. Eanred hat immer eine Tasche mit Arzneien dabei. Und jeden Abend muß er Puttoc ein Gebräu aus Maulbeerblättern, Schlüsselblume und Königskerze in seinen Wein mischen.»
Fidelma schaute Eadulf an. Der sächsische Bruder nickte. «Ein Schlaftrunk, wie er nicht selten zur Anwendung kommt.»
Sebbi fuhr fort: «Ohne seine Arzneien könnte Puttoc nicht leben. Das war auch der Grund, warum er Eanred gekauft hat. Nur Eanred ist in der Lage, das richtige Heilmittel für Puttocs Schlaflosigkeit anzumischen. Deshalb würde Puttoc auch nie ohne seinen Diener auf Reisen gehen.»
Fidelmas Neugier war geweckt. «Puttoc hat Eanred gekauft?»
«Ja, Eanred war Sklave, und Puttoc hat einen ziemlich hohen Preis für ihn bezahlt. Anschließend hat er ihm in Übereinstimmung mit den Lehren der Heiligen Kirche die Freiheit geschenkt. Aber Eanred betrachtet sich immer noch als Puttocs Leibeigener, auch wenn er im Grunde ein freier Mann ist.»
«Wißt Ihr Näheres darüber, wie es zu diesem Kauf gekommen ist, Sebbi?» fragte Fidelma.
«Ja, ich war selbst zugegen. Es war zu der Zeit, als Swithhelm über die Ostsachsen herrschte und sich nur wenige in seinem Königreich an den Glauben hielten. Es ist inzwischen wohl sieben Jahre her, daß Puttoc beschloß, das Land zu bereisen und die verlorenen Schafe an den einen, wahren Gott zu gemahnen. Da ich in Ostsachsen aufgewachsen bin - ja, ich bin sogar nach Prinz Sebbi benannt, der heute das Land regiert -, wählte Abt Puttoc mich zu seinem Reisegefährten. Als wir Swithhelms Hof erreichten, wurde gerade Eanreds Hinrichtung vorbereitet.»
Sebbi hielt inne. Als er sah, daß sie ihm gebannt lauschten, fuhr er fort: «Im Gespräch mit Swithhelm stellte sich heraus, daß der König den bevorstehenden Tod des Sklaven sehr bedauerte, denn Eanred genoß einen hervorragenden Ruf als kräuterkundiger Heiler. Wenn jedoch ein Sklave seinen Herrn tötet, gibt es keine andere Wahl. Er muß die Tat mit seinem Tod sühnen, es sei denn, jemand anders entschädigt die Familie des Ermordeten, indem er das wergild bezahlt und den Sklaven dadurch erwirbt. Wer will allerdings einen Sklaven kaufen, der seinen früheren Herrn ermordet hat?»
«Eanred war Swithhelms Sklave?» fragte Fidelma.
«Oh, nein. Eanred gehörte einem Bauern namens Fobba vom Nordufer des Flusses Tamesis.»
«Und wie ist Eanred in die Sklaverei geraten?» fragte Eadulf «Wurde er gefangengenommen oder schon als Sklave geboren?»
«Seine Eltern haben ihn während einer der großen Hungersnöte in die Sklaverei verkauft, um das eigene Überleben zu sichern», erklärte Sebbi. «In unserem Land wird ein Sklave behandelt wie jede andere Ware, mit der sich ein gewinnbringender Handel treiben läßt.» Er grinste, als er Fidelmas angewiderten Gesichtsausdruck sah. «Ich weiß, der Glaube verabscheut die Sklaverei, aber das Gesetz der Sachsen ist älter als der Glaube, und der Kirche bleibt nichts anderes übrig, als billigend in Kauf zu nehmen ...»
Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie hatte oft genug von den Schwierigkeiten gehört, mit denen die irischen Missionare bei der Bekehrung der heidnischen Sachsen zu kämpfen hatten. Es war erst siebzig Jahre her, daß die Sachsen begonnen hatten, sich von ihren kriegerischen Göttern abzuwenden und sich zum Christentum zu bekennen. Viele klammerten sich noch an ihre alten Überzeugungen, und vielerorts vermischten sich christliche und heidnische Sitten.
«Eanred ist also als Sklave aufgewachsen und hat später seinen Herrn umgebracht?»
«So war es. Puttoc, der, was seine Gesundheit betraf, schon immer sehr empfindlich war und stets nach neuen Mitteln gegen seine zahlreichen Beschwerden suchte, wurde sofort hellhörig. Eanred, scheinbar begriffsstutzig und von schlichtem Gemüt, sei, so sagte man uns, ein Genie, wenn es um heilende Kräuter und Pflanzen ging. Aus dem gesamten Königreich seien die Menschen zu Fobbas tun geströmt und hätten Fobba für Eanreds Arzneien die höchsten Preise bezahlt.
Puttoc machte dem König der Ostssachsen daraufhin einen Vorschlag: Der König sollte die Hinrichtung um einen Tag verschieben. Wenn es Ean-red gelänge, ihm am Abend einen Trunk zu mischen, der ihm einen ungestörten Nachtschlaf brächte, wäre er, Puttoc, bereit, Eanred zu kaufen und das wergild zu bezahlen.»
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