Mit einem schelmischen Augenzwinkern schaute sie zu ihm auf, machte dann kehrt und ging den Flur hinunter. Weder in Bruder Sebbis noch in Bruders Ines Kammer konnten sie etwas Verdächtiges entdecken, so daß Fidelma auf ihren ursprünglichen Plan zurückkam, Ronan Ragallachs Unterkunft in Augenschein zu nehmen.
Eadulf wechselte einen kurzen Blick mit dem verdrossenen jungen tesserarius, ehe er ihr folgte. Was ihn betraf, war die Sache ziemlich klar, und es gab keinen Grund für weitere mühselige Ermittlungen. Ronan Ragallach hatte Wighard offenbar aus Habgier umgebracht, und es war ihm gelungen, den Schatz noch vor seiner Festnahme zu verstecken. Nach seiner Flucht aus dem Wachhaus war er wohl längst wieder in den Besitz seiner Beute gelangt und hatte - wenn er auch nur ein Fünkchen Verstand besaß - die Stadt inzwischen möglichst weit hinter sich gelassen.
Als sie über die vordere Treppe hinunter in den Innenhof vor dem domus hospitale kamen, sahen sie Abt Puttocs hochgewachsene Gestalt am Brunnen stehen. Doch es war die junge Frau neben ihm, die Fidelmas Blick auf sich zog, so daß sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharrte. Eadulf und Fu-rius Licinius wären fast mit ihr zusammengestoßen. Die schmächtige Schwester Eafa zitterte wie Espenlaub und hatte die Stimme in tränenreicher Verzweiflung erhoben. Aus der Entfernung sah es so aus, als versuchte der Abt, sie mit Worten und Gesten zu beruhigen, doch Eafa wandte sich plötzlich um und stürzte durch einen der schmalen Gänge davon, ohne Schwester Fidelma und ihre Begleiter zu bemerken.
Abt Puttoc blickte ihr noch eine Weile betreten nach. Dann wandte er sich um und sah Fidelma, Eadulf und Furius Licinius in der offenen Tür zum domus hospitale stehen. Ohne ein Zeichen des Wie-dererkennens machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand raschen Schrittes im Nachbargebäude.
«Offenbar hat unser stolzer Abt die arme Schwester Eafa völlig aus der Fassung gebracht», sagte Fidelma. «Worum es wohl bei diesem Disput ging?»
«Jedenfalls wäre es nicht das erste Mal», bemerkte Eadulf grimmig.
Fidelma sah ihn erstaunt an. «Was meint Ihr damit, Eadulf?»
«Als ich gestern morgen vom Refektorium zurückkam, vernahm ich laute Stimmen aus Puttocs Zimmer. Ich war schon in meiner Kammer und gerade dabei, die Tür hinter mir zu schließen, als ich hörte, wie Puttocs Tür aufging. Neugier übermannte mich, und ich ließ meine Tür einen Spaltbreit offen, um zu sehen, was nebenan vor sich ging. Jedenfalls stürmte Schwester Eafa mit verrutschter Haube und zerknitterter Tracht aus Puttocs Zimmer, als ob ihr der Leibhaftige erschienen sei. Dann lief sie den Flur entlang und die Treppe hinunter.»
«Habt Ihr Puttoc auf den Vorfall angesprochen?»
Eadulf preßte die Lippen zusammen. Seine Wangen röteten sich. «Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen. Durch entsprechende Andeutungen hat man mir schon öfter zu verstehen gegeben, daß Puttoc bei den Frauen einen gewissen Ruf genießt. Die Lehre Roms schreibt zwar den Zölibat für Äbte und Bischöfe vor, aber ich fürchte, in dieser Hinsicht ist Puttoc eher den Lehren der Kirche Columbans zugeneigt.»
Fidelmas Augen verengten sich.
«Wohl kaum der passende Leumund für einen Mann, der den Ehrgeiz hat, in die Fußstapfen Augustins von Canterbury zu treten. Wollt Ihr damit sagen, Puttoc sei dafür bekannt, Frauen seine Aufmerksamkeiten aufzuzwingen?»
Eadulfs Gesichtsausdruck war eigentlich Antwort genug, dennoch sagte er: «So habe ich es jedenfalls gehört.»
«Gibt es in den sächsischen Königreichen denn keine Gesetze gegen Vergewaltigung?» fragte Fidelma entsetzt.
«Nicht für die Armen», erwiderte Eadulf.
«Unser Fenechus-Gesetz schützt die Frauen nicht nur vor Vergewaltigung. Auch dann, wenn ein Mann zum Beispiel eine betrunkene Frau zum Geschlechtsverkehr verleitet, wird der Vorwurf ebenso ernst genommen. Unser Gesetz schützt alle Frauen. Schon wenn ein Mann es wagt, eine Frau gegen ihren Willen zu küssen oder auch nur zu berühren, kann er zu einer Strafe von zweihundertvierzig Silber- screpall verurteilt werden.»
Eadulf wußte, daß der screpall zu den wichtigsten Münzen gehörte, die in Irland im Umlauf waren.
«Vielleicht gebe ich aber auch allzu leichtfertig irgendwelchen Klatsch wieder», sagte er, von Fidelmas Heftigkeit unangenehm berührt. «Ich habe die ganze Geschichte von Sebbi gehört.»
«Und ob den Absichten Bruder Sebbis zu trauen ist, sei noch dahingestellt», meinte Fidelma. Sie schien eine weitere Bemerkung machen zu wollen, besann sich aber eines Besseren und sagte statt dessen: «Kommt, Furius Licinius, zeigt uns den Weg zu Ronan Ragallachs Unterkunft.»
«Dazu müssen wir zu einer Herberge unter einer der Bögen der Aqua Claudia gehen», erklärte Licinius, der dem Gespräch zwischen Fidelma und Eadulf gebannt gelauscht hatte.
«Ist das weit?» fragte Fidelma.
«Nein, im Gegenteil, es ist ganz in der Nähe», sagte Licinius. «Sicherlich habt Ihr den Aquädukt schon gesehen. Die große, unter dem berüchtigten Kaiser Caligula vor über sechshundert Jahren erbaute Wasserleitung bringt Wasser von einer achtundsechzig Kilometer entfernten Quelle in der Nähe von Sublaquea in die Stadt.»
Fidelma hatte den Aquädukt tatsächlich schon gesehen und die Größe des Bauwerks bewundert. In Irland gab es nichts Vergleichbares, aber die irischen Königreiche waren auch reichlich mit Wasser versorgt, und es gab keinen Grund, den Verlauf von Flüssen oder Quellen zu verändern, um damit dürre Gegenden fruchtbar zu machen.
«Die Herberge gehört Diakon Bieda», erklärte Furius Licinius weiter. «Ich muß Euch warnen, Schwester, es ist eine sehr billige und schäbige Unterkunft, die nicht unter der Aufsicht von Geistlichen steht. Auf die Empfindsamkeiten gläubiger Frauen wird dort wenig Rücksicht genommen, wenn Ihr versteht, was ich meine.»
Fidelma sah den jungen Mann mit ernster Miene an.
«Ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint, Furius Licinius», entgegnete sie. «Aber wenn der Eigentümer tatsächlich ein Diakon der Kirche ist, verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte.»
Licinius zuckte mit den Achseln. «In Rom ist es einfach, Vergünstigungen käuflich zu erwerben. Der Titel eines Diakons gehört dazu.»
«Dann werde ich mein Bestes tun, um mich von etwaigen Anstößigkeiten nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Und jetzt sollten wir uns auf den Weg machen, denn ich habe wenig Lust, das Abendessen zu verpassen, das sicherlich bald aufgetragen wird.»
FURIUS LICINIUS FÜHRTE SIE DURCH
die vielen Innenhöfe und Gärten des Lateranpalasts, bis sie schließlich auf dem Celius-Hügel durch ein Seitentor nach draußen traten. Selbst Fidelma war von den ausgedehnten Anlagen beeindruckt, und Licinius genoß es, sein Wissen unter Beweis stellen zu können.
«Das ist das Sancta Sanctorum», sagte er und zeigte auf einen kleinen, aber hoch aufragenden Kirchenbau, «die private Kapelle des Heiligen Vaters mit der Scala Santa, der Treppe, die unser Herr Jesus Christus nach seiner Verurteilung im Haus des Statthalters Pilatus hinunterging.»
Fidelma sah in zweifelnd an. «Aber Pilatus’ Haus stand doch in Jerusalem», entgegnete sie.
Licinius grinste zufrieden: Er wußte etwas, wovon Fidelma offenbar keine Ahnung hatte.
«Die heilige Helena, die Mutter des großen Konstantin, hat die Treppe von Jerusalem nach Rom gebracht. Sie besteht aus achtundzwanzig Stufen aus tyrianischem Marmor, die selbst der Heilige Vater nur auf Knien erklimmen darf. Helena fand die Treppe zur gleichen Zeit wie das wahre Kreuz, das in Golgatha vergraben war - das Kreuz, an dem der Erlöser gelitten hat.»
Fidelma hatte die Geschichte von dem dreihundert Jahre zurückliegenden Fund des echten Kreuzes schon vorher gehört. Sie bezweifelte, daß ein einfaches Holzkreuz sich so eindeutig zuordnen ließ, wagte aber nicht, ihre Einwände zu äußern. «Ich habe gehört, daß die fromme Helena ganze Schiffsladungen mit Reliquien aus dem heiligen Land nach Rom geschickt hat, darunter sogar Holzreste aus der Bundeslade», sagte sie statt dessen. Licinius blickte ernst. «Wenn Ihr möchtet, kann ich sie Euch gerne zeigen, Schwester. Wir sind sehr stolz auf die heiligen Reliquien, die hier im Lateranpalast aufbewahrt werden.»
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