«Ich hatte eine sehr unruhige Nacht. Einmal glaubte ich, ein seltsames Geräusch zu hören, war aber zu erschöpft, um der Sache nachzugehen. Um zwei Uhr morgens weckte mich dann mein Diener und überbrachte mir die traurige Nachricht von Wighards Tod - möge er in ewigem Frieden ruhen.» In den frommen Worten lag keinerlei Mitgefühl.
Fidelma hatte den Eindruck, daß die Nachricht für Puttoc alles andere als traurig gewesen war. Sein Ehrgeiz war nicht zu übersehen. Die Aussicht, in Wighards Fußstapfen treten zu können, beflügelte ihn.
«Ihr habt also nichts gehört und auch nichts gesehen?»
«Gar nichts», antwortete Puttoc. «Und jetzt muß ich zu Bischof Gelasius. Komm, Eanred.»
Mit wenigen großen Schritten trat er hinaus auf den Flur. «Wartet!»
Verärgert wandte sich der Abt noch einmal um. Ihre ständigen Widerworte reizten ihn bis aufs Blut.
Noch nie war ihm jemand so kühn entgegengetreten, und dann auch noch eine Frau, eine Irin ...! Ihm fehlten die Worte. Eadulf hielt die Hand vor den Mund und tat so, als müsse er sich etwas aus dem Gesicht wischen.
«Ich habe Bruder Eanred noch nicht befragen können», sagte Fidelma gelassen, die empörte Miene des Abts geflissentlich übersehend, und wandte sich an Puttocs Diener.
«Er wird Euch auch nicht mehr sagen können als ich», unterbrach Puttoc Fidelma wütend.
«Dann laßt ihn selbst zu Wort kommen», lautete Fidelmas unnachgiebige Antwort. «Mit Euch bin ich fertig, Puttoc von Northumbrien. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr gehen.»
Puttoc schluckte. Wie ein Mann, der seinem Hund Befehle erteilt, wandte er sich an Eanred.
«Sobald du hier fertig bist, kommst du zu mir in mein Zimmer», blaffte er und stapfte wütend über den Korridor davon.
Die Hände immer noch gefaltet, stand Bruder Eanred ruhig da und blickte Fidelma sanftmütig an. Von dem soeben Vorgefallenen schien er völlig unberührt, als ob er die Spannungen überhaupt nicht bemerkt hätte.
«Nun, Bruder Eanred ...», begann Fidelma.
Der Mönch wartete, ein seltsam geistesabwesendes Lächeln auf den Lippen. Seine Augen waren blaß und ausdruckslos.
«Wo wart Ihr gestern abend? Berichtet uns doch bitte, was Ihr nach dem Abendessen getan habt.»
«Getan habt, Schwester?» Der Mann lächelte unverdrossen weiter. «Ich habe mich schlafen gelegt, Schwester.»
«Gleich nach dem Essen?»
«Nein, Schwester. Zuerst bin ich spazierengegangen.»
Fidelma hob die Augenbrauen. Sie hatte bereits vermutet, daß sich hinter Eanreds Gleichmut ein schlichtes Gemüt verbarg. Eanred war ein williger Diener, der jedoch der ständigen Führung bedurfte.
«Wohin seid Ihr gegangen?»
«Zur großen Arena, Schwester.»
«Ihr meint das Colosseum?» hakte Eadulf nach.
Eanred nickte. «Ja, so wird es, glaube ich, genannt. Der Ort, wo so viele Menschen ihr Leben gelassen haben. Das wollte ich gern mal mit eigenen Augen sehen.» Er lächelte zufrieden. «Gestern abend hat es einen Fackelzug dorthin gegeben.»
Auch Fidelma und Eadulf hatten an der Prozession teilgenommen, ehe sie die Mitternachtsmesse für Aidan von Lindisfarne besucht hatten.
«Und wann seid Ihr zurückgekehrt?»
Eanred runzelte die Stirn, dann erschien das unerschütterliche Lächeln wieder auf seinem Gesicht. «Das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls standen viele Leute herum, und die Soldaten liefen aufgeregt hin und her.»
«Soll das heißen, daß Ihr erst zurückgekehrt seid, als Wighard schon nicht mehr am Leben war? Aber das wäre erst nach Mitternacht gewesen. Hat Euch jemand zurückkommen sehen?»
«Die Soldaten natürlich. Ach ja, und Bruder Sebbi. Ich traf ihn im Korridor, und er sagte, ich solle Abt Puttoc wecken und ihm mitteilen, daß Wighard tot sei. Das habe ich dann auch gemacht.»
«Ihr müßt viele Stunden im Colosseum verbracht haben, wenn Ihr erst so spät zurückgekehrt seid», warf Eadulf ein.
«Ich war nicht die ganze Zeit über dort.»
«Sondern?»
«Ich wurde in eine feine Villa, nicht weit von hier, auf ein Glas Wein eingeladen.»
Eadulf und Fidelma wechselten erstaunte Blicke.
«Und wer hat Euch in diese feine Villa eingeladen, Eanred?»
«Der griechische Medikus, den ich hier im Palast schon oft gesehen hatte.»
«Cornelius? Cornelius von Alexandria?»
Eanred lächelte froh und nickte. «Ja, das ist sein Name, Schwester, Cornelius. Er lud mich in seine Villa ein, um mir einige alte Kunstwerke aus seiner wertvollen Sammlung zu zeigen und dazu ein Glas Wein zu trinken. Ich liebe es, ihm zuzuhören, wenn er Geschichten aus fernen Ländern erzählt, auch wenn mein Latein eher dürftig ist. Ich bin kein Gelehrter, müßt Ihr wissen.»
«Ihr habt also den Abend mit Cornelius verbracht, was dieser zweifellos bestätigen wird?»
«Ich war bei ihm», nickte Eanred, der offenbar nicht verstand, was Eadulf damit meinte.
«Verstehe. Und als Ihr zurückkamt, hat Euch Bruder Sebbi über die Geschehnisse aufgeklärt und Euch gebeten, Abt Puttoc zu wecken. Ihr seid also zu ihm gegangen?»
«Ja.»
«Und Abt Puttoc lag in seinem Bett und schlief?»
«Ja, und zwar tief und fest», bestätigte der Mönch.
«Und was geschah dann?»
«Der Abt war sehr aufgeregt, zog sich sofort etwas über und begab sich in Wighards Gemächer, wo bereits viele Leute versammelt waren.»
«Und was habt Ihr getan?»
«Ich ging in meine eigene Kammer nebenan und schlief sofort ein. Ich war müde und hatte bei dem griechischen Medikus viel Wein getrunken.»
«Wart Ihr nicht neugierig, wie Wighard zu Tode gekommen war?»
Bruder Eanred zuckte die Achseln. «Wir sterben alle irgendwann.»
«Aber Wighard ist ermordet worden.»
Das Gesicht des Mannes blieb ohne jede Regung. «Bruder Sebbi hat mich gebeten, dem Abt mitzuteilen, daß Wighard tot ist. Das war alles.»
«Ihr wußtet also nicht, daß er ermordet wurde?»
«Jetzt weiß ich es, Schwester. Jetzt, wo Ihr es mir sagt. Kann ich jetzt gehen? Der Abt erwartet mich in seinem Zimmer.»
Fidelma sah Bruder Eanred eindringlich an. Dann sagte sie leise: «Also, gut. Ihr könnt gehen.»
Der Mönch neigte den Kopf und verließ den Raum.
Fidelma wandte sich fragend zu Eadulf und Licinius um. Ersterer lächelte und schüttelte den Kopf.
«Tja ... Ein einfacher Mann mit schlichtem Gemüt. Da kommt es mir doch etwas seltsam vor, daß Cornelius ausgerechnet seine Gesellschaft suchte, um mit ihm über Kunst zu plaudern und Wein zu trinken.»
«Hört sich ganz so an, als sei das Gespräch ziemlich einseitig verlaufen», stimmte Fidelma zu. «Aber es gibt genug Menschen, die sich selbst gern reden hören und denen es gleichgültig ist, ob daraus ein Dialog oder ein Monolog wird. Vielleicht gehört unser Freund Cornelius auch zu dieser Sorte.»
«Abt Puttoc ist nicht gerade eine Zierde der Christenheit», bemerkte Furius Licinius, der bisher geschwiegen hatte.
«Wie wahr! Er ist ehrgeizig, übereifrig ...» Fidelma hielt inne. «Ich frage mich, wie ehrgeizig .?»
Eadulf sah die irische Geistliche zweifelnd an.
«Kommt, Fidelma. Ihr vergeßt Bruder Ronan Ragallach. Ihr wollt den Abt von Stanggrund doch nicht ernsthaft des Mordes an Wighard von Can-terbury verdächtigen?»
Fidelma lächelte. «Ich habe Ronan nicht vergessen, Eadulf, aber was seine Rolle in der ganzen Angelegenheit betrifft, will ich mich lieber noch nicht festlegen. Es sind noch zu viele Fragen offen.»
Auf Furius Licinius’ jungem, edlem Gesicht spiegelte sich wachsende Ungeduld. «Wollt Ihr Bruder Ronans Unterkunft auch noch sehen?» erkundigte er sich.
«Gleich, Licinius. Zuvor möchte ich alle Zimmer auf diesem Stockwerk prüfen. Daß wir hier bei Bruder Eadulf nichts gefunden haben, heißt nicht, daß wir die anderen Zimmer unberücksichtigt lassen sollten.»
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