»Ach, Cass!« murmelte Fidelma, »wenn ich das wüßte, brauchte ich nicht hinzureiten!«
Cass zuckte hilflos die Achseln, folgte Fidelma aber wie immer.
Wie Cass gesagt hatte, waren es nicht mehr als zehn Meilen quer über eine breite Landzunge. Das Waisenhaus lag an den schlammigen Ufern einer weiten Gezeitenbucht, in die sich aus den nördlichen Bergen gemächlich ein Fluß ergoß. Sie durchquerten den Fluß an einer schmalen Furt und näherten sich einer Art Bauernhof, der von einem Holzzaun umgeben war. Ein breitschultriger Mann trat ihnen am Tor entgegen. Er trug die Kleidung eines Waldarbeiters, doch Fidelma bemerkte das Kruzifix, das an seinem muskulösen Hals hing.
»Bene vobis, meine Freunde«, rief er ihnen zu, als sie ihre Pferde zügelten. Er hatte eine laute gutmütige Baritonstimme, die zu seinem fröhlichen Gesicht paßte.
»Und dir Gesundheit«, erwiderte Fidelma. »Bist du Bruder Molua?«
»Eigentlich heiße ich Lugaid nach Lugaid Loigde, dem Ahnherrn der Corco Loigde. Aber das ist ein so berühmter Name, Schwester, und deshalb ziehe ich seine bescheidenere Verkleinerungsform vor. Molua paßt besser zu mir. Womit kann ich euch dienen?«
Fidelma glitt von ihrem Pferd und stellte sich und Cass vor.
»Solche hochstehenden Besucher haben wir nicht oft«, sagte der große Mann. »Eine Anwältin bei Gericht und ein Krieger aus der Elite des Königs von Cashel. Kommt, ich bringe eure Pferde in den Stall, und dann gestattet ihr mir vielleicht, euch die Gastfreundschaft meines Hauses anzubieten?«
Fidelma hatte nichts dagegen. Sie betrachtete den Bauernhof mit Interesse. Mehrere Kinder spielten in der Nähe eines kleinen Bethauses. Eine ältere Nonne saß unter einem Baum mit einem halben Dutzend Kinder um sich herum. Sie spielte auf einer kleinen hölzernen Rohrflöte, einer cuisech, und sie spielte gut, fand Fidelma. Sie schien den Kindern verschiedene Lieder beizubringen.
Bruder Molua kam zurück.
»Dies ist ein friedlicher Ort, Bruder«, bemerkte Fidelma beifällig.
»Ich bin zufrieden hier, Schwester«, stimmte ihr Molua lächelnd zu. »Kommt mit. Aibnat!«
Eine schlichte Frau mit rundem Gesicht trat in die Tür eines der Häuser. Sie hatte ähnlich offene, gutmütige Züge wie Molua.
»Aibnat, wir haben Gäste. Dies ist meine Frau, Aibnat.«
»Ich habe gehört, daß ihr beide aus Ros Ailithir kommt«, begrüßte sie die Frau. »Untersucht ihr nicht den Tod von Dacan?«
Fidelma nickte bejahend.
»Zum Reden ist noch genug Zeit, wenn unsere Gäste gegessen haben, Aibnat«, tadelte sie Molua und geleitete sie alle ins Haus. Sie betraten einen Raum, in dem ein Herd mollige Wärme verbreitete. Auf dem Herd standen Kessel, aus denen es herrlich duftete. Molua lud sie ein, am Tisch Platz zu nehmen, und holte einen Krug und mehrere Tonbecher.
»Darf ich euch etwas von meinem cuirm anbieten, um die Kälte abzuwehren? Ich destilliere ihn selbst«, fügte er stolz hinzu.
Cass stimmte bereitwillig zu, während sich Fidelma in der Küche umsah.
»Für wie viele Leute kocht ihr hier?« fragte sie beim Anblick der vielen Töpfe.
Die Antwort kam von Aibnat.
»Im Augenblick haben wir hier zwanzig Kinder unter vierzehn Jahren, Schwester. Und wir sind vier Erwachsene, die für sie sorgen. Mein Mann, ich selbst und zwei andere Glaubensschwestern.«
Molua schenkte ein, und sie tranken den scharfen, doch angenehm schmeckenden Schnaps mit Genuß.
»Wie lange gibt es dieses Waisenhaus schon?« fragte Cass.
»Seit vor zwei Jahren die Gelbe Pest zum erstenmal ihre Opfer forderte. In manchen Gemeinden wurden ganze Familien ausgelöscht, und niemand war mehr da, der sich um die übriggebliebenen Kinder kümmerte«, erklärte Aibnat. »Damals erbat mein Mann von Abt Brocc in Ros Ailithir die Erlaubnis, seinen kleinen Bauernhof in eine Zufluchtsstätte für die Waisen umzuwandeln.«
»Ihr habt anscheinend großen Erfolg damit«, lobte Fidelma.
»Möchtet ihr nun essen nach der Reise?« lud sie Molua ein.
»Wir haben wirklich Hunger«, gab Cass zu, denn sie hatten seit dem Morgen nichts gegessen.
»Aber es sind noch mehrere Stunden bis zum Abendessen«, wandte Fidelma ein und warf Cass einen tadelnden Blick zu.
»Das macht doch nichts«, lächelte Aibnat. »Ein Teller mit kaltem Dachsfleisch oder ... Mir fällt ein, ich habe da noch einen Fleischpudding, Hammelfleisch mit Vogelbeeren und wildem Knoblauch gekocht, dazu Kohl und Zwiebeln und Gerstenbrot und danach einen Teller Schlehen mit Honig zum Abschluß. Was meint ihr dazu?«
»Meine Frau genießt den Ruf, die beste Köchin der Corco Loigde zu sein«, sagte Molua.
»Ein wohlverdienter Ruf, nach der Zusammenstellung des Essens zu urteilen«, bemerkte Cass.
Aibnat errötete vor Freude.
»Wir halten hier Bienen, gewinnen den Honig also selbst.«
»Ich habe schon gesehen, daß ihr hier reichlich mit Bienenwachskerzen versehen seid«, sagte Fidelma. In vielen ärmeren Haushalten wurden Kerzen gewöhnlich aus Fleischfett oder geschmolzenem Talg hergestellt, mit einer entrindeten Binse als Docht.
»Während Aibnat nun das Essen zubereitet«, meinte Molua, setzte sich und füllte ihre Becher aus dem Krug nach, »könnt ihr mir erzählen, warum ihr mein bescheidenes Haus mit eurer Anwesenheit beehrt.«
»Vor einer Woche brachte Aibnat drei Kinder hierher.«
»Ja. Zwei kleine Mädchen, nicht älter als neun Jahre, und einen Jungen von ungefähr acht Jahren«, bestätigte Molua.
»Es waren die Kinder, die aus Rae na Scrine gerettet wurden«, fügte Aibnat hinzu. »Hattet ihr nicht auch etwas damit zu tun?«
Cass lächelte grimmig.
»Allerdings. Wir waren es, die sie gerettet haben.«
»Wir haben von diesem schrecklichen Verbrechen gehört«, sagte Molua. »Es ist nicht zu verstehen, daß Menschen in Zeiten der Not so grausam zu ihren Nachbarn sein können. Eine solche Ungerechtigkeit verurteilt doch jeder.«
Fidelma konnte es sich nicht verkneifen, ihren Spott anzubringen.
»Es war Plato, der schrieb, daß die Menschheit stets die Ungerechtigkeit tadelt, doch nur aus Furcht, selbst ihr Opfer zu werden, und nicht, weil sie sich scheut, sie zu begehen.«
Moluas Gesicht wurde traurig.
»Das kann ich nicht glauben, Schwester. Ich glaube nicht, daß der Mensch absichtlich darauf aus ist, eine Ungerechtigkeit zu begehen. Er tut es immer nur, weil er verblendet wird durch ein verzerrtes Bild einer angenommenen Moral oder einer gerechten Sache.«
»Welche Moral oder gerechte Sache hat deiner Meinung nach zu dem Morden in Rae na Scrine geführt?« wollte Cass wissen.
Molua zuckte die Achseln.
»Ich bin nur ein einfacher Bauer. Wenn ich ein Feld umpflüge, dann zerstöre ich Leben. Ich zerstöre die Gräser und Kräuter auf diesem Feld. Ich zerstöre den natürlichen Lebensraum von Wühlmäusen, Hamstern und anderen Tieren. Für sie ist das eine Ungerechtigkeit. Für mich ist es eine gerechte Sache, denn das Pflügen dient der Ernährung des Menschen.«
»Tiere!« murmelte Cass. »Wer schert sich um Gerechtigkeit für Tiere?«
»Sind sie nicht auch Gottes Geschöpfe?« fragte Molua gekränkt.
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst, Molua«, mischte sich Fidelma ein. »In der Theorie stimmen wir zweifellos überein. Es gab einen Grund für die Tat in Rae na Scrine, doch wenn der Grund auch gerechtfertigt sein mag, die Tat ist es nicht und kann es nicht sein.«
Molua neigte den Kopf.
»Das akzeptiere ich.«
»Nun gut. Es waren noch zwei Jungen mit Namen Cetach und Cosrach, die auch aus Rae na Scrine kamen und in dieses Waisenhaus gebracht werden sollten. Doch sie sind verschwunden. Einer war etwa zehn Jahre, der andere älter, vielleicht fünfzehn. Sie hatten schwarzes Haar.«
Aibnat und Molua blickten sich an und schüttelten beide beinahe gleichzeitig den Kopf.
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