»Hier sind keine Kinder aufgetaucht, auf die diese Beschreibung passen würde.«
»Das habe ich auch nicht erwartet. Aber vielleicht dürfte ich den anderen Kindern ein paar Fragen stellen?« bat Fidelma. »Sie wissen möglicherweise mehr über die beiden Jungen.«
»Ich möchte nicht, daß die Kinder in Aufregung geraten«, wandte Aibnat ein. »Die Erinnerung an das schreckliche Ereignis könnte sie verstören.«
»Ich würde sie nicht behelligen, wenn es nicht wichtig wäre«, versuchte Fidelma sie zu beruhigen. »Ich kann nicht dafür bürgen, daß sie sich nicht aufregen. Dennoch muß ich darauf bestehen.«
Molua nickte langsam.
»Sie hat das Recht dazu«, erklärte er seiner Frau. »Sie ist eine dalaigh bei Gericht.«
Aibnat schien das nicht zu überzeugen.
»Dann laß mich dabei sein, wenn du ihnen deine Fragen stellst, Schwester.«
»Natürlich«, stimmte Fidelma bereitwillig zu. »Gehen wir und sprechen wir mit ihnen, nur wir beide. Das wird sie nicht verschüchtern.«
»In Ordnung«, sagte Aibnat und sah Molua an. »Du kannst inzwischen das Essen für unsere Gäste bereiten«, wies sie ihn an.
Aibnat ging mit Fidelma zum Bethaus. Auf ihren Ruf hin lösten sich zwei kleine Mädchen und ein bok-kig wirkender kleiner Junge widerwillig aus der Menge der spielenden und lärmenden Kinder. Fidelma erkannte in ihnen kaum die verschreckten Kleinen wieder, die sie in den Ruinen von Rae na Scrine gefunden hatte. Sie drängten sich um Aibnat, und diese führte sie zu einem abgeschiedeneren Teil des Geländes, wo ein gefällter Baum genügend Platz zum Sitzen bot. Daneben rauschte ein kleiner Bach, der durch die Ansiedlung lief und in den größeren Fluß in der Bucht mündete.
»Setzt euch, Kinder«, sagte Aibnat, während sie und Fidelma sich auf dem Stamm niederließen.
Der Junge blieb stehen und trat trotzig mit dem Fuß gegen den Stamm. Fidelma sah, daß er ein kleines hölzernes Spielzeugschwert am Gürtel trug. Die beiden Mädchen setzten sich sofort im Schneidersitz auf die Erde und blickten erwartungsvoll zu ihnen auf.
»Kennt ihr diese Dame?« fragte Aibnat.
»Ja, es ist die Dame, die uns weggeführt hat, damit uns die bösen Männer nicht finden«, erklärte eins der kleinen Mädchen ernsthaft.
»Wo ist Schwester Eisten?« fiel die andere ein. »Wann besucht sie uns mal?«
»Bald.« Fidelma lächelte unsicher, nachdem Aibnat ihr einen warnenden Blick zugeworfen und leicht den Kopf geschüttelt hatte. Die Kinder hatten offensichtlich nicht erfahren, was mit Eisten geschehen war. »Nun möchte ich euch ein paar Fragen stellen. Bitte denkt gründlich nach, bevor ihr sie beantwortet. Wollt ihr das tun?«
Die beiden Mädchen nickten feierlich, doch der Junge schwieg, sah mit finsterer Miene den Baumstamm an und mied Fidelmas Blick.
»Erinnert ihr euch an die beiden anderen Jungen, die bei euch waren, als ich euch fand?«
»Ich erinnere mich an das Baby«, sagte eins der kleinen Mädchen. Fidelma fiel ein, daß es Cera hieß. »Es schlief ein, und niemand konnte es aufwecken.«
»Das stimmt«, sagte sie, »aber es sind die Jungen, die mich interessieren.«
»Die wollten nicht mit uns spielen. Gemeine, gehässige Jungs! Ich konnte sie nicht leiden.« Das andere kleine Mädchen, Ciar, machte ein finsteres Gesicht und saß mit verschränkten Armen da.
»Sie waren gemein, diese Jungen?« fragte Fidelma eifrig nach. »Wer waren sie?«
»Einfach so Jungs«, antwortete Ciar verdrossen. »Jungs sind alle gleich.«
Sie warf einen verächtlichen Blick auf den kleinen Jungen, der aufhörte, gegen den Stamm zu treten, und sich plötzlich hinsetzte.
»Mädels!« höhnte er zurück.
»Sag mir noch mal, wie du heißt«, ermunterte ihn Fidelma lächelnd. Sie erinnerte sich an die Namen der Mädchen, aber nicht an den des Jungen.
»Sag ich nicht!« knurrte der Junge.
Aibnat schnalzte mißbilligend mit der Zunge.
»Er heißt Tressach«, sagte sie dann.
»Tressach? Der Name bedeutet >wild und kriegerische Bist du wild und kriegerisch?« fragte Fidelma.
Der Junge schwieg.
Fidelma rang sich ein noch breiteres Lächeln ab.
»Ach«, sagte sie mit leichtem Spott, »vielleicht habe ich deinen Namen falsch verstanden. War es Tressach oder Tassach? Denn Tassach bedeutet faul und träge, einer, der nicht mal reden will. Tassach hört sich eher nach dir an, nicht wahr?«
Der Junge errötete vor Ärger.
»Mein Name ist Tressach!« knurrte er. »Ich bin wild und kriegerisch. Sieh mal, ich hab schon mein Kriegerschwert.«
Er zog das geschnitzte Holzschwert aus dem Gürtel und hielt es ihr hin.
»Das ist wirklich eine furchtbare Waffe«, meinte Fidelma und bemühte sich, ernst zu bleiben, obwohl ihre Augen vor Vergnügen funkelten. »Und wenn du ein echter Krieger bist, dann weißt du auch, daß Krieger einem Ehrenkodex gehorchen müssen. Weißt du das?«
Der Knabe starrte sie unsicher an und schob das Schwert wieder in den Gürtel.
»Was für einen Kodex?« fragte er mißtrauisch.
»Du bist doch ein Krieger, nicht wahr?« lockte ihn Fidelma.
Der Junge nickte nachdrücklich.
»Ein Krieger muß schwören, immer die Wahrheit zu sagen. Er muß bereit sein zu helfen. Wenn ich dich nun nach den Jungen Cetach und Cosrach frage, dann mußt du mir alles sagen, was du weißt. Du wurdest bestimmt Tressach genannt, weil du ein Krieger bist und dem Ehrenkodex gehorchst.«
Der Junge dachte anscheinend darüber nach. Schließlich lächelte er Fidelma an.
»Na gut.«
Sie seufzte erleichtert.
»Kanntest du Cetach und Cosrach gut?«
Tressach schnitt ein Gesicht.
»Sie wollten mit keinem von uns spielen.«
»Mit keinem?« fragte Fidelma stirnrunzelnd.
»Mit keinem der Kinder aus dem Dorf«, ergänzte Ciar. »Jungs!«
Tressach wollte zornig auf sie losgehen, doch Fidelma unterbrach ihn.
»Stammten sie denn nicht aus dem Dorf?«
Tressach schüttelte den Kopf.
»Sie kamen erst vor ein paar Wochen in unser Dorf und wohnten bei Schwester Eisten.«
»Waren sie Waisen?« fragte Fidelma weiter.
Der Junge sah sie verständnislos an.
»Hatten sie eine Mutter oder einen Vater?« wandelte Fidelma die Frage ab.
»Ich glaube, sie hatten einen Vater«, warf das kleine Mädchen namens Cera ein.
»Wieso, mein Schatz?« erkundigte sich Fidelma.
»Sie meint den ganz alten Mann, der ab und zu ins Dorf kam und sie besuchte«, erklärte der Junge.
»Ein alter Mann?«
»Ja. Der alte Mann, der die gemeinen Jungs überhaupt erst in Schwester Eistens Haus brachte.«
Fidelma beugte sich vor.
»Wann war das?«
»Ach, vor Wochen.«
»Wie sah er aus?«
»Er hatte ein Kreuz am Hals, so wie du eins trägst.« Cera warf Tressach einen triumphierenden Blick zu.
Der Junge schnitt ihr eine ärgerliche Grimasse.
»Wer war es?« Fidelma erwartete eigentlich nicht, daß die Kinder das wußten.
»Er war ein großer Gelehrter aus Ros Ailithir«, verkündete Tressach mit selbstbewußter Miene.
Fidelma staunte.
»Woher weißt du das?« fragte sie.
»Weil Cosrach mir das erzählt hat, als ich ihn danach fragte. Dann kam sein Bruder dazu und sagte zu mir, ich sollte den Mund halten und verschwinden, und wenn ich jemand was von seinem aite erzählte, dann würde er mich verhauen.«
»Sein aite? Das Wort hat er gebraucht?«
»Ich hab’s mir nicht ausgedacht!« schniefte der Junge beleidigt.
Aite war eigentlich eine vertraute Anrede an einen Vater. Doch da schon seit Jahrhunderten Kinder in den fünf Königreichen von Eireann zur Erziehung zu Pflegeeltern gebracht wurden, hatte man die vertrauten Bezeichnungen für Vater und Mutter oft auch auf die Pflegeeltern übertragen, so daß die Pflegemutter mit muimme und der Pflegevater mit aite angeredet wurden.
Читать дальше