»Vielleicht jagt Salbach ja doch nicht allein?« meinte Fidelma. »Die Vorstellung scheint dem Gefährten unseres liebenswürdigen Freundes äußerst komisch vorgekommen zu sein.«
Sie ließen ihre Pferde im Schritt gehen auf dem Weg, der sich jetzt wieder vom Ufer emporwand, ein paar Meilen quer über Bodenwellen führte und dann in einen dichten Wald hinein. Fidelma bemerkte, daß sich in ihm viele Baumarten fanden, vorherrschend jedoch waren Nadelbäume, gemischt mit Birken und Haselsträuchern. Überall wuchs üppiges Heidekraut.
Plötzlich sahen sie sich einem kleinen Fluß gegenüber, der in stürmischem Lauf von den Bergen herunterkam und dem Meer hinter ihnen zustrebte. Er war breit und offenbar recht flach an dieser Stelle. Fidelma wollte in ihn hineinreiten, als Cass sie mit einem leisen Zuruf zurückhielt.
Wortlos wies er zum anderen Ufer.
Fidelma erblickte dort, ein Stück entfernt, eine kleine Holzfällerhütte. Aus ihrem Schornstein stieg Rauch auf.
Vor der Hütte standen zwei Pferde. Eins war ziemlich reich aufgezäumt, das andere sehr einfach.
Fidelma wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Cass.
»Wir reiten hinüber«, befahl sie und trieb ihr Pferd durch die Furt, zu der der Weg sie geführt hatte. Hier war der Fluß an der tiefsten Stelle kaum mehr als einen halben Meter tief. Vorsichtig ritten sie das andere Ufer hoch.
»Wir lassen unsere Pferde dort zwischen den Bäumen«, meinte Fidelma und wies auf eine kleine geschützte Stelle ein Stück weit vor ihnen. »Dann gehen wir zu Fuß zu der Hütte. Ich vermute, dort finden wir sowohl Salbach als auch unsere verschollene Bibliothekarin.«
Cass schüttelte verwundert den Kopf, widersprach aber nicht.
Fidelma hatte beschlossen, sich der Hütte heimlich zu nähern, denn ihr war eine Reihe von Gedanken gekommen, die sie zu einer Schlußfolgerung geführt hatten, die sie zwar wenig rühmlich fand, deren Logik jedoch zu den Dingen zu passen schien, die sie bisher erfahren hatte.
Sie folgten einem schmalen Pfad parallel zum Flußufer und kamen zu der kleinen Lichtung, auf der die Holzfällerhütte stand.
Sie blieben am Rande des Waldes stehen. Fidelma hob den Kopf und lauschte.
Aus der Hütte drang das helle Lachen einer Frau.
Fidelma sah Cass an. Anscheinend hatte sie mit ihrer Voraussage recht behalten.
Sie wollte schon auf die Hütte zugehen, als Cass sie am Arm packte.
Da hörte auch sie den leisen Hufschlag eines herantrabenden Pferdes.
Rasch zog sie sich in den Schutz des Unterholzes zurück und hockte sich neben Cass nieder.
Von der anderen Seite der Lichtung jagte ein Reiter heran und hielt vor der Hütte. Er war untersetzt und trug einen Wollmantel, wirkte ungepflegt und schmutzig; es war ein Krieger.
»Salbach!« rief er.
Kurz darauf erschien der Fürst in der Tür der Hütte, er zog sich gerade das Hemd an.
»Was gibt’s?« rief er und warf sich einen pelzbesetzten Mantel darüber.
»Die Verhandlung soll in den nächsten Tagen in Ros Ailithir stattfinden. Und Ross’ barc ankert in der Bucht. Sie müssen zurückgekehrt sein.«
Fidelma sah, wie Cass sie mit großen Augen anblickte. Sie schnitt eine Grimasse.
»Weiß sie es?« fragte Salbach.
»Das bezweifle ich. In Sceilig Mhichil war darüber nichts zu erfahren.«
»Na, ich glaube, ich weiß, wo sie sich verstecken«, meinte Salbach.
»Das wird den bo-aire freuen«, brummte der Krieger.
Salbach ging zu seinem Pferd und schwang sich behende in den Sattel.
»Ich begleite dich nach Cuan Doir, und unterwegs gebe ich dir meine Anweisungen für Intat.«
Cass blickte Fidelma bedeutungsvoll an.
Salbach und der Krieger ritten zum Fluß und durchquerten die Furt.
»Ich dachte, Salbach wollte Krieger aussenden, um Intat festzunehmen, damit er wegen des Verbrechens in Rae na Scrine vor Gericht kommt?« flüsterte er.
»Intat und Salbach stecken offensichtlich unter einer Decke«, antwortete Fidelma, stand auf und klopfte sich die Blätter vom Habit. »Das hatte ich schon vermutet. Komm, ich glaube, es wird Zeit, daß wir ein Wörtchen mit unserer verschollenen Bibliothekarin reden.«
Sie ging mit festen Schritten über die Lichtung zur Tür der Hütte und stieß sie kurzerhand auf.
Schwester Grella, noch nicht angekleidet, fuhr herum und starrte sie entgeistert an.
Fidelma lächelte kalt.
»Nun, Schwester Grella? Anscheinend hast du beschlossen, das Nonnendasein aufzugeben.«
Mit offenem Mund und bleichem Gesicht starrte Schwester Grella an Fidelma vorbei auf Cass, der ihren Blick mit gleichem Erstaunen zurückgab. Dann brach Grella den Bann, indem sie ein Kleidungsstück ergriff und sich damit bedeckte.
Fidelma drehte sich um und schaute Cass vorwurfsvoll an.
Der junge Krieger wurde rot, trat rückwärts aus der Hütte und stellte sich neben die Tür.
»Zieh dich an, Grella«, befahl Fidelma, »und dann reden wir miteinander.«
»Wo ist Salbach?« flüsterte die ehemalige Bibliothekarin. »Was hast du vor?«
»Salbach ist fortgeritten, wie du ja wohl bemerkt hast«, antwortete Fidelma. »Und was deine zweite Frage angeht, nun, das kommt darauf an. Zieh dich endlich an.«
Fidelma fand einen Stuhl und setzte sich.
Grella tat, wie ihr geheißen.
»Nimmst du mich mit zurück in die Abtei?«
Fidelma lächelte spöttisch.
»Du hast dich für dein Verhalten sowohl nach dem kirchlichen wie nach dem weltlichen Recht zu verantworten.«
»Ich habe nicht gesündigt. Salbach will mich zu seiner zweiten Frau nehmen. Die Abtei habe ich für immer verlassen.«
»Ohne das dem Abt mitzuteilen? Und du sagst, Salbach ist schon verheiratet?«
»Seine Frau ist alt«, antwortete Grella, als wäre das eine Erklärung für alles.
»So wie Dacan alt war?« fragte Fidelma harmlos.
Grella schaute sie verblüfft an. Dann fing sie sich und zuckte die Achseln.
»Das hast du also herausgefunden? Ja, wie Dacan es war. Verrunzelt, müde und schwach war er. Deshalb habe ich mich von ihm scheiden lassen.«
»Nachdem der Glaube in dieses Land gekommen ist, haben die Bischöfe die Sitte, eine zweite Frau oder einen zweiten Mann zu nehmen oder eine Konkubine zu halten, verurteilt«, bemerkte Fidelma. »Wenn Sal-bach dich zu seiner zweiten Frau nimmt, wird dich die Kirche verurteilen.«
Grella lachte höhnisch.
»Vor ein paar Jahren hatte Nuada von Laigin zwei Frauen. Das weltliche Gesetz gesteht dem Mann immer noch das Recht auf eine zweite Frau zu.«
»Ich kenne das Gesetz, Grella. Doch du bist eine Nonne und müßtest wissen, daß die Regeln des Glaubens oft im Gegensatz zum weltlichen Recht stehen.«
»Aber deine Aufgabe ist es, das weltliche Recht durchzusetzen«, fuhr Grella sie an.
Fidelma verfolgte dieses Thema nicht weiter, denn sie wußte, daß die Kirche sich zwar gegen die in alten Zeiten weit verbreitete Polygynie stellte, doch nur mit begrenztem Erfolg. Schließlich hatte ein Brehon, der den Gesetzestext des Bretha Crolige verfaßte, verzweifelt vermerkt: »Es gibt im irischen Gesetz verschiedene Meinungen darüber, was angemessener ist, viele geschlechtliche Verbindungen einzugehen oder nur eine, denn da das auserwählte Volk Gottes in Vielehe lebte, fällt es leichter, dies zu preisen als zu verurteilen.« Grella hatte recht. Aber Fidelma ging es nicht in erster Linie um die Moral ihres Liebesverhältnisses mit Salbach von den Corco Loigde.
»Du hattest also vor, niemals wieder in die Abtei zurückzukehren? Warum hast du dann deine persönlichen Besitztümer nicht mitgenommen?«
Grella biß sich auf die Lippen. Sie hatte sich fertig angezogen und ihr Haar in Ordnung gebracht. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie vor Fidelma.
»Ich brauche mich nicht zu entschuldigen. Es ist nicht viel, was ich noch in der Abtei habe, und was ich brauche, bekomme ich von Salbach. Vielleicht kehre ich noch einmal dorthin zurück, nachdem ich Sal-bachs Frau geworden bin. Dann wagt es niemand mehr, mir Vorwürfe zu machen. Ich stehe dann unter Salbachs Schutz.«
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