»Was hat Eisten dir erzählt?«
»Ach, daß Grella sie einmal auf Salbachs Burg eingeladen hat, weil Salbach sich angeblich für das Waisenhaus interessierte. Sie meinte, die beiden seien eng befreundet.«
Fidelma blickte eine Weile in die arglosen Augen der Novizin.
»Ich habe gehört, Midach sei dein anamchara, dein Seelenfreund?«
Fidelma wunderte sich, daß die Frage solche Panik im Gesicht der Novizin auslöste. Doch im nächsten Moment hatte sich Necht wieder unter Kontrolle.
»Das stimmt«, sagte sie lächelnd.
»Kennst du Midach schon lange?«
»Die meiste Zeit meines Lebens. Er war ein Freund meines Vaters und brachte mich hierher in die Abtei.«
Fidelma fragte sich, wie sie das Thema, das sie im Sinn hatte, am geschicktesten anschneiden sollte, und entschied sich für den direkten Weg.
»Du brauchst dir Kränkungen nicht gefallen zu lassen, weißt du«, sagte sie. Sie dachte an Midachs rauhen Umgang mit ihr, an den Schlag auf den Hinterkopf.
Schwester Necht errötete.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie.
»Ich habe zufällig mitbekommen, wie Midach dich für irgend etwas ausgeschimpft hat, und hatte den Eindruck, er hätte dich geschlagen. Es war im Kräutergarten vor einer Woche, kurz bevor ich wegfuhr.«
Nechts Gesicht spiegelte nicht nur Beschämung, sondern auch Furcht wider.
»Es war ... es war nichts. Ich hatte einen Auftrag von Midach nicht erfüllt. Er ist ein guter Mensch. Manchmal geht sein Temperament mit ihm durch. Du wirst das doch nicht dem Abt berichten? Bitte nicht.«
»Wenn du es nicht willst, Necht, tue ich es natürlich nicht«, beruhigte sie Fidelma. »Doch niemand, vor allem keine Frau, sollte sich von anderen beschimpfen lassen. Nach dem Bretha Nemed ist es ein Verstoß gegen das Gesetz, eine Frau zu belästigen oder sie mit Worten zu beleidigen. Weißt du das?«
Schwester Necht schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
»Keine Frau muß Beleidigungen einfach hinnehmen«, fuhr Fidelma fort. »Eine Beleidigung muß kein tätlicher Angriff sein, auch wenn jemand eine Frau verhöhnt, ihr Aussehen kritisiert, auf ihre körperlichen Fehler hinweist oder sie ungerecht und wahrheitswidrig beschuldigt, kann sie die Hilfe des Gesetzes in Anspruch nehmen.«
»So ernst war es nicht, Schwester«, sagte Necht leise. »Ich danke dir für deine Anteilnahme, aber Midach hat es wirklich nicht böse gemeint.«
Die Glocke rief zum Mittagsgebet, Schwester Necht murmelte eine Entschuldigung und lief davon.
An dieser Sache ist offenbar doch mehr dran, dachte Fidelma bei sich. Ein unverkennbarer Schatten von Furcht hatte sich auf das Gesicht des jungen Mädchens gelegt, als Fidelma die Szene im Kräutergarten erwähnte. Nun, sie konnte nicht mehr tun, als Necht auf ihre Rechte hinweisen. Vielleicht sollte sie mit Mi-dach sprechen.
An der Tür des Gästehauses traf sie Cass.
»Weißt du schon das Neueste?« rief er aufgeregt.
»Was denn?« fragte Fidelma.
»Der Großkönig kommt hierher. Die ganze Abtei redet nur noch davon.«
»Ach das!« meinte Fidelma geringschätzig.
»Ich dachte, das wäre wichtig für dich. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, die Verteidigung Mumans gegen die Ansprüche Laigins vorzubereiten.«
»Wirklich, Cass, ich brauche nicht an meine Verantwortung erinnert zu werden«, erwiderte Fidelma. »Es gibt eine schlimmere Neuigkeit als die von der bevorstehenden Ratsversammlung: jemand hat ein paar unserer Beweisstücke aus Broccs Zimmer gestohlen. Anscheinend hat der Trottel von Abt mehreren Leuten gegenüber erwähnt, daß ich sie bei ihm gelassen habe.«
»Wieso nur ein paar der Beweisstücke?« fragte Cass. »Warum hat man nicht den ganzen Beutel gestohlen?«
Fidelma begriff sofort die Bedeutung seiner Worte. Sie hatte das Nächstliegende übersehen. Nur der Og-ham-Stab und das Pergament fehlten. Die Fesseln und Grellas Rock, von dem sie abgerissen wurden, waren jedoch noch da. Warum war der Dieb so wählerisch vorgegangen?
Sie überlegte einen Moment.
»Wo willst du jetzt schon wieder hin?« fragte Cass, als Fidelma plötzlich zur Abteikirche loslief.
»Es gibt etwas, das ich hätte tun sollen, bevor wir nach Sceilig Mhichil aufbrachen«, rief sie über die Schulter zurück. »Schwester Necht hat mich gerade daran erinnert.«
»Schwester Necht?«
Cass trottete hinter ihr her. Fidelmas plötzliche Einfälle machten ihm zu schaffen. Er wünschte, sie wäre mitteilsamer und weniger spontan.
»Mir scheint, wir rennen hierhin und dorthin, aber je mehr wir hin- und herrennen, desto weniger nähern wir uns unserem Ziel«, beklagte er sich. »Ich dachte, unsere Vorfahren hätten uns gelehrt, daß Geschäftigkeit nicht unbedingt Fortschritt bedeutet.«
Fidelma hatte im Moment wirklich andere Sorgen und ärgerte sich über die Bemerkung des Kriegers.
»Wenn du die Morde aufklären kannst, indem du im Zimmer sitzt und die Wand anstarrst, dann tu es bitte.«
Ihr Ton ließ Cass zusammenzucken.
»Ich sag ja gar nichts dagegen, aber was soll uns ein Besuch der Abteikirche bringen?«
»Wart’s ab«, erwiderte Fidelma kurz.
Als sie die Stufen hinaufstiegen, kam ihnen Bruder Rumann entgegen.
»Ich habe gehört, ihr seid aus Sceilig Mhichil zurück«, begrüßte er sie. »Wie war die Reise? Habt ihr etwas erfahren?«
»Die Reise war schön«, antwortete Fidelma ruhig, »aber woher weißt du, daß wir nach Sceilig Mhichil gefahren sind?«
Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, nicht einmal ihrem Vetter Brocc zu verraten, wohin sie wollten. Niemand in der Abtei konnte es also wissen. Sie war sofort auf der Hut.
Rumann blickte verlegen drein.
»Ich weiß nicht. Irgend jemand hat es erwähnt. Es könnte Bruder Midach gewesen sein. War das Ziel deiner Reise etwa geheim?«
Fidelma gab darauf keine Antwort, sondern wechselte das Thema.
»Ich habe gehört, das Grab des heiligen Fachtna befindet sich in der Abteikirche. Kannst du mir sagen, wo es ist?«
»Natürlich.« Rumann wuchs förmlich vor Stolz. »Es ist das Ziel von Pilgerfahrten am vierzehnten Tag des Lunasa-Festes, seinem Feiertag. Ich zeige es dir, Schwester.«
Keuchend eilte er das lange Hauptschiff entlang und durch das Querschiff zum Hochaltar.
»Wißt ihr, daß Fachtna blind war, als er an diesen Ort kam, und mit Hilfe eines großen Wunders hier in Ros Ailithir wieder sehend wurde? Zum Dank erbaute er diese Abtei.« erzählte Rumann.
»Ich weiß«, antwortete Fidelma, ließ sich aber von der Begeisterung des Verwalters für dieses Thema nicht anstecken.
Rumann führte Fidelma und Cass die Stufen zum Hochaltar hinauf und dann um ihn herum in die Apsis, den gewölbten halbrunden Raum hinter dem Altar, wo ein Priester oder der Abt selbst die Zeremonie der »Entlassung« nach den Riten der Kirche vorzunehmen pflegte. In den Boden der Apsis war eine große Sandsteinplatte eingelassen, die etwa eine Handbreit über ihn hinausragte. Merkwürdigerweise stand am Kopfende der Platte auf einem kleinen Steinsockel die Statue eines Cherub. Am Fußende befand sich ein ähnlicher Sockel mit einem Seraph darauf.
»Ihr seht nur ein einfaches Kreuz«, erklärte ihnen Rumann, »und den Namen Fachtna in der alten Og-ham-Schrift.«
»Kannst du Ogham lesen?« fragte Fidelma harmlos.
»Meine Rolle als Verwalter der Abtei verlangt von mir die Kenntnis vieler Wissensgebiete.« Rumanns rundliches Gesicht drückte Selbstzufriedenheit aus.
Fidelma wandte sich wieder der Steinplatte zu.
»Was befindet sich unter dem Stein?« erkundigte sie sich.
Rumann sah sie fragend an.
»Nun, die Grabstätte Fachtnas natürlich. Es ist die einzige ihrer Art innerhalb der Klostermauern.«
»Ich meine, wie ist das Grab beschaffen? Ist es ein Loch im Boden, eine Höhle oder was?«
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