»Warum erzählst du uns das alles?« fragte Cass mißtrauisch. »Der Klostervorsteher hat uns die Wahrheit nicht anvertraut.«
»Weil ich das Zeichen der Leibwache des Königs von Cashel erkenne und weil ich gehört habe, daß du, Schwester, eine Rechtsanwältin bist. Ich glaube nicht, daß ihr den Jungen etwas antun wollt. Vor allem sage ich euch das, weil ich fürchte, daß sie in großer Gefahr sind, und hoffe, daß ihr ihnen helft.«
»Weshalb meinst du, daß ihnen Gefahr droht?« fragte Fidelma.
»Vor etwas mehr als zwei Wochen legte hier ein Schiff mit einem Mönch an, der die beiden Jungen mit sich fortnahm. Ich hörte, wie Pater Mel den Mann mit >ehrenwerter Vetter< anredete. Nur wenige Tage später kam wieder ein Schiff an mit einem Mann, der genau dasselbe wissen wollte wie ihr.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Ein großer, rotgesichtiger Mann mit einem stählernen Helm und einem pelzbesetzten Wollmantel. Er behauptete, er sei ein Fürst, und er trug eine goldene Amtskette.«
Fidelma schluckte vor Verblüffung.
»Intat!« rief Cass triumphierend.
Bruder Febal blinzelte ängstlich.
»Kennt ihr den Mann?«
»Wir wissen, daß er ein böser Mensch ist«, bestätigte Fidelma. »Was hat er hier über die beiden Jungen erfahren?«
»Pater Mel hat ihm dasselbe erzählt wie euch. Aber gerade als der Mann abfahren wollte, erwähnte einer der Brüder unabsichtlich die beiden Jungen und die Tatsache, daß sie kurz zuvor von einem Mönch abgeholt worden waren.«
»Und Intat verließ die Insel?«
»Ja. Mel war wütend. Er forderte uns alle auf, die Jungen zu vergessen. Doch ich glaube, daß ihr im besten Interesse der Jungen handelt. Aber dieser andere Mann, der sie hier suchte, bestimmt nicht. Wenn er die Kinder findet ...« Der Mönch seufzte.
»Wir bemühen uns, sie zu schützen, Bruder«, versicherte ihm Fidelma. »Von Intat droht ihnen wohl wirklich Gefahr. Weißt du, wer die Jungen waren, wie sie hießen und wohin sie gebracht wurden?«
»Ach, selbst Pater Mel sprach ihre Namen niemals aus und rief sie immer mit ihren lateinischen Namensformen: Primus und Victor. Hier auf der Puppe kannst du es sehen, auf dem Stoff steht >Hic est meum. Victor<. Das bedeutet: >Das gehört mir, Victor<.«
»Kannst du sie beschreiben?« Fidelma verriet nicht, daß sie sehr gut wußte, was die Worte bedeuteten.
»Nicht so richtig. Sie hatten beide Haare wie poliertes Kupfer.«
»Kupferrot?« Fidelma hatte gehofft, etwas anderes zu hören. »Weißt du wirklich nicht, wohin sie gebracht wurden?«
»Ich weiß nur, daß der Mönch, der sie abholte, aus einer Abtei irgendwo im Süden kam. Der jüngere, Victor, war ein freundliches Kind. Gib ihm seine Puppe wieder, und ich werde zum Erzengel Michael, dem Schutzpatron unseres kleinen Klosters, für ihre Sicherheit beten.«
»Kannst du uns den Mönch beschreiben . Wie sah er aus?«
»Nein, das kann ich nicht. Er verbarg Körper und Gesicht immer in seiner Kutte, denn es war schlechtes Wetter. Ich habe sein Gesicht nie richtig gesehen. Er war nicht jung, aber auch nicht alt. Weiter kann ich nichts sagen.«
»Hab Dank, Bruder. Du hast uns sehr geholfen.«
»Ich führe euch den Pfad hinunter und gebe eurem Schiff ein Zeichen. Mein Gewissen ist nun leichter, nachdem ich euch dies alles gebeichtet habe.«
Cass legte Fidelma die Hand auf den Arm.
»Warum gehen wir nicht zurück und nehmen uns den alten Ziegenbock noch einmal vor?« fragte er. »Wir sagen ihm, was wir wissen, und verlangen, daß er uns verrät, wohin sein Vetter die beiden Jungen gebracht hat.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Aus einem Mann wie Pater Mel kriegen wir nichts weiter heraus«, antwortete sie. »Unser Weg führt zurück nach Ros Ailithir.«
Wieder standen sie an Bord der barc von Ross, und das Schiff schoß rasch nach Süden, hart am Wind segelnd an den schmalen, vorspringenden Halbinseln der Südküste entlang.
»Eine lange Reise für so wenig Neues«, überlegte Cass und beobachtete Fidelma, die die ramponierte Puppe immer wieder in den Händen drehte.
»Manchmal kann ein einziges Wort oder ein Satz das größte Rätsel lösen und alles erklären«, entgegnete sie.
»Was haben wir auf unserer Reise nach Sceilig Mhichil erfahren, was wir nicht schon vorher ahnten? Hätten wir den alten Mönch noch weiter gefragt .«
»Manchmal ist die Bestätigung des Wissens ebenso wichtig wie das Wissen selbst«, unterbrach ihn Fidelma. »Und wir haben die Verbindung zwischen Intat und dem mysteriösen Mord an Dacan hergestellt. Dacan suchte nach dem Sohn Illans, von dem er annahm, er habe das Alter der Wahl erreicht. Jetzt wissen wir, daß es zwei junge Söhne gibt und keinen im Alter der Wahl. Intat sucht die Nachkommen Il-lans. Dacan arbeitete für Laigin, Intat gehört zu den Corco Loigde. Das ergibt langsam ein Bild.«
»Abgesehen davon, daß Intat in die Geschichte verwickelt ist, was haben wir sonst noch erfahren?« fragte Cass.
»Wir haben erfahren, daß das Kloster auf Sceilig Mhichil den Erzengel Michael als Schutzpatron hat. Daß sogar sein Name >Fels des Michael< bedeutet. Und wir wissen jetzt, daß Mel den Mann, der die Jungen abholte, >ehrenwerter Vetter< nannte.«
Cass war nicht recht klar, ob Fidelma scherzte.
»Und inwieweit hilft uns das weiter?« fragte er.
Fidelma lächelte.
»Wir wissen schon eine ganze Menge. Es gibt zwei Erben Illans. Sie haben Sceilig Mhichil vor zwei Wochen verlassen, ungefähr zur selben Zeit, als Dacan ermordet wurde, und jetzt macht Intat Jagd auf sie. Ich meine, Intat suchte sie, als er Rae na Scrine niederbrannte. Ich glaube nicht, daß er sie gefunden hat.
Ich möchte wetten, daß sie sich in Ros Ailithir oder in unmittelbarer Nähe davon aufhalten.«
»Falls sie noch leben.« Cass zeigte plötzlich Interesse. »Wir wissen nicht einmal, wer sie sind. Zwei Jungen mit kupferrotem Haar. Mir sind keine Jungen mit solchem Haar begegnet. Ihre richtigen Namen kennen wir auch nicht. Wir wissen nur, daß Primus und Victor nicht ihre wirklichen Namen sind. Das alles ergibt noch keine Spur, die wir verfolgen können.«
»Vielleicht nicht«, gab Fidelma nachdenklich zu. »Aber andererseits .«
Abt Broccs schmales Gesicht zeigte Erleichterung, als Fidelma sein Zimmer betrat.
»Ich habe soeben erst die Nachricht erhalten, daß ihr zurück seid. War deine Reise erfolgreich, Kusine?« fragte er hoffnungsvoll und erhob sich zu ihrer Begrüßung.
»Ich weiß jetzt einiges mehr«, antwortete Fidelma ausweichend.
Der Abt überlegte sichtlich, ob er seiner Kusine noch weitere Fragen stellen sollte, entschied sich aber dagegen.
»Ich habe Neuigkeiten.« Er bedeutete ihr, sich zu setzen. »Ich fürchte allerdings, es sind schlechte Nachrichten.«
Fidelma ließ sich nieder, und Brocc hielt ein Wachstäfelchen hoch.
»Gestern erhielt ich diese Botschaft: Der Großkönig wird in den nächsten Tagen hier eintreffen.«
Fidelmas Überraschung genoß er sichtlich.
»Sechnassach, der Großkönig? Er kommt hierher?«
Brocc nickte nachdrücklich.
»Er hat bestimmt, daß das Gericht die Klage Laigins gegen Muman in der Sache des Todes Dacans in der Abtei anhören soll, in der Dacan ermordet wurde. Er schreibt, es sei ...« Brocc zögerte und schielte auf das Wachstäfelchen, »... angemessen, daß die Verhandlung an diesem Ort stattfinde.«
»So?« Fidelma zog das Wort wie einen tiefen Seufzer in die Länge. »Und er bringt den ganzen Hof mit?«
»Natürlich. Der Oberrichter Barran wird mit dem Großkönig das Urteil fällen, und Erzbischof Ultan von Armagh kommt auch, um die Geistlichkeit der fünf Königreiche zu vertreten. Dein Bruder Colgü und seine Berater können ebenfalls jeden Tag hier eintreffen.«
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