»Das ist wirklich ein erstaunlicher Ort«, flüsterte sie Cass zu. »Kein Wunder, daß die Brüder so darauf versessen sind, unter sich zu bleiben.«
Der Mönch, der sie begleitet hatte, war verschwunden, vermutlich in einem der Steingebäude.
Die Gärtner waren auf sie aufmerksam geworden, sie hörten auf zu arbeiten und redeten unruhig untereinander.
»Ich glaube, sie sind nicht sehr erfreut, dich zu sehen, Fidelma«, meinte Cass, die Hand wieder am Schwertgriff.
Der Mönch war eben so plötzlich wieder da, wie er verschwunden war.
»Hier lang. Pater Mel wird mit euch sprechen.«
Sie sahen sich einem alten Mann mit runzligem Gesicht gegenüber, der mit untergeschlagenen Beinen in einer der bienenkorbförmigen Hütten saß. Die Hütte war so niedrig, daß sie entweder dem Beispiel des Alten folgen und sich auf ein paar auf dem Boden liegende Schaffelle setzen oder gebückt stehen mußten. Fidelma ließ sich im Schneidersitz dem Alten gegenüber nieder.
Er sah sie mit seinen hellblauen Augen nachdenklich an. Sein Gesicht schien aus dem Felsen der Insel herausgehauen, so starr und steinern war seine Miene. Viele Linien hatten sich tief in sein wettergebräuntes Gesicht gegraben.
»»In hoc loco non ero, ubi enim ovis, ibi mulier ...
ubi mulier ... ibi peccatum«, zitierte der Alte leidenschaftslos.
»Ich weiß, daß du nicht den Wunsch hast, mit Frauen zu verkehren«, antwortete Fidelma. »Ich würde eure Regel auch nicht verletzen, wenn es nicht um einen höheren Zweck ginge.«
»Höheren Zweck? Der Verkehr der Geschlechter im Glauben widerspricht der Disziplin des Glaubens«, knurrte Pater Mel.
»Im Gegenteil, wenn beide Geschlechter sich voneinander fernhielten, dann gäbe es bald kein Volk, keinen Glauben und keine Kirche mehr«, entgegnete Fidelma ironisch.
»Abnegabant mulierum administrationem separan-tes eas a monasteriis« , zitierte Pater Mel salbungsvoll.
»Wir können hier sitzen und uns lateinisch unterhalten, wenn du willst«, seufzte Fidelma. »Aber hergekommen bin ich wegen wichtigerer Dinge. Ich möchte mich nicht aufdrängen, wo ich unwillkommen bin, wenn ich es auch kaum glauben kann, daß es Orte in den fünf Königreichen von Eireann gibt, an denen unsere Gesetze und Bräuche derart abgelehnt werden. Doch je eher ich Antwort auf meine Fragen erhalte, desto eher kann ich die Insel wieder verlassen.«
»Was möchtest du?« fragte Pater Mel kühl. »Mein Schüler berichtete mir, du seist eine dalaigh mit einem Auftrag des weltlichen Königs dieses Landes.«
»Das stimmt.«
»Was muß ich also tun, damit du deinen Auftrag erfüllen und schnell wieder abreisen kannst?« »Habt ihr jemanden aus dem Lande Osraige in diesem Kloster?«
»Wir heißen jeden in unserer Bruderschaft willkommen.«
Fidelma gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden.
»Das ist nicht das, wonach ich fragte.«
»Nun gut, ich selbst stamme aus Osraige«, erwiderte Pater Mel vorsichtig. »Was willst du wissen?«
»Ich glaube, vor einiger Zeit hat jemand aus Osraige hier Zuflucht gefunden. Ein Abkomme der ursprünglichen Könige. Ein Erbe Illans. Wenn das stimmt, dann würde ich ihn gern sprechen, denn ich fürchte, sein Leben ist in Gefahr.«
Pater Mel lächelte beinahe.
»Folglich willst du mit mir sprechen? Illan, von dem du redest, war mein Vetter, wenn ich mich auch nicht als Erben irgendeiner weltlichen Macht betrachte.«
»Ist das wahr?« Dacan hatte geschrieben, der Erbe Illans werde von seinem Vetter behütet, doch sie hatte nicht erwartet, daß der alte Klostervorsteher dieser Vetter wäre.
»Es ist nicht meine Gewohnheit zu lügen, Frau«, erwiderte der Alte. »Du glaubst also, daß mein Leben in Gefahr ist?«
Fidelma schüttelte langsam den Kopf. Pater Mel stellte sicherlich keine Bedrohung der gegenwärtigen Kleinkönige von Osraige dar und auch keinen Kristallisationspunkt für einen künftigen Aufstand.
»Nein. Für dich besteht keine Gefahr. Aber ich habe gehört, daß es einen jungen Erben Illans gibt und daß sein Vetter, offensichtlich du selbst, ihn in seiner Obhut hat.«
Pater Mels Miene blieb steinern.
»Es gibt keinen jungen Erben Illans auf dieser Insel«, sagte er bestimmt. »Darauf schwöre ich dir meinen heiligen Amtseid.«
Sollte diese lange, mühsame Reise wirklich ganz umsonst gewesen sein? Hatte Dacan sich geirrt? Doch Pater Mel konnte einen solchen Eid nicht schwören, wenn er nicht der Wahrheit entsprach.
»Gibt es noch etwas?« fragte Pater Mel barsch.
Fidelma stand auf, sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Nein. Ich nehme das, was du sagst, als die Wahrheit hin. Du verbirgst keinen jungen Erben Illans.« Sie zögerte. »Hat dich ein Kaufmann namens Assid aus Laigin aufgesucht?«
Pater Mel hielt ihrem Blick stand.
»Hier legen viele Kaufleute an. Ich kann mich nicht an alle ihre Namen erinnern.«
»Sagt dir der Name des Ehrwürdigen Dacan irgend etwas?«
»Als ein Gelehrter des Glaubens«, antwortete der Vorsteher unbefangen. »Sicherlich hat jeder schon von ihm gehört.«
»Weiter weißt du nichts von ihm?«
»Weiter weiß ich nichts«, bestätigte der Alte. »Also wenn das nun alles ist ...?«
Fidelma verließ die Hütte als erste. Cass folgte ihr mit verwunderter Miene.
»Ist das alles?« fragte auch er. »Wir sind doch sicher nicht bloß deshalb hergekommen?«
»Pater Mel hätte nicht geschworen, es gäbe keinen jungen Erben Illans in diesem Kloster, wenn es ihn doch gäbe«, erklärte Fidelma.
»Mönche sollen auch schon gelogen haben«, erwiderte Cass düster.
Plötzlich sahen sie einen breitgesichtigen, kummervoll dreinblickenden Mönch mittleren Alters, der ihnen den Weg versperrte.
»Ich ...«, setzte er zögernd an. »Ich hab’s mitgehört. Du hast gefragt, ob jemand aus Osraige hier war. Flüchtlinge.«
Im Gesicht des Mönchs spiegelten sich heftig widerstreitende Empfindungen.
»Das stimmt«, sagte sie. »Wie heißt du?«
»Ich bin Bruder Febal. Ich arbeite hier in den Gärten.«
Der Mönch holte plötzlich einen kleinen Gegenstand aus seinem Gewand hervor und überreichte ihn feierlich Fidelma.
Es war eine Kornpuppe. Sie war alt und abgenutzt, an den Gelenken war das Gewebe zerrissen, und die Füllung kam heraus.
Fidelma betrachtete die Puppe und wendete sie hin und her. »Was kannst du uns dazu sagen, Bruder?«
Bruder Febal zögerte, warf einen Blick zurück auf die Hütte des Vorstehers und winkte ihnen, ihm ein Stück zu folgen, um außer Sichtweite zu gelangen.
»Pater Mel hat euch nicht die ganze Wahrheit gesagt«, gestand er. »Der gute Pater hat Angst, aber nicht seinetwegen, sondern wegen seiner Schutzbefohlenen.«
»Ich war mir sicher, daß er sehr sparsam mit der Wahrheit umgeht«, antwortete Fidelma ernst. »Aber ich kann nicht glauben, daß er einfach lügen würde, wenn wirklich ein junger Erbe Illans auf dieser Insel wäre.«
»Es ist auch keiner da, also hat er die Wahrheit gesagt«, antwortete Bruder Febal. »Aber vor sechs Monaten brachte er zwei Jungen auf die Insel. Er erklärte uns, ihr Vater, sein Vetter, sei gestorben, und er werde sie für ein paar Monate beherbergen, bis ein neues Zuhause für sie gefunden wäre. Als es dem kleineren der Jungen hier langweilig wurde, wie das eben so ist mit Kindern, baute ihm der ältere Junge diese Kornpuppe zum Spielen. Als sie fortgingen, stellte ich fest, daß der Junge sie hiergelassen hatte.«
»Zwei Jungen. Wie alt waren sie?« fragte Fidelma verwundert.
»Der eine war ungefähr neun Jahre, der andere ein wenig älter.«
»Ein Junge, der demnächst das Alter der Wahl erreicht, war also nicht dabei?«
Bruder Febal verneinte.
»Es waren nur diese beiden Jungen hier. Sie stammten aus Osraige und waren Vettern von Pater Mel. Soviel weiß ich.«
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