»Und ich nehme an, König Fianamail von Laigin und seine Anwälte werden auch bald hier sein?«
»Fianamail bringt den Abt Noe und seinen Brehon Forbassach mit.«
»Forbassach! Dann wird also Forbassach das Plädoyer für Laigin halten?«
So groß ihre Abneigung gegen den falkengesichtigen Anwalt aus Laigin auch war, Fidelma wußte, daß er einen scharfen Verstand besaß und ein fähiger Vertreter des Rechts war, den man nicht unterschätzen durfte. Er würde sicher alles daransetzen, Fidelma seine Vertreibung aus Cashel heimzuzahlen.
»Wann genau ist mit ihrer Ankunft zu rechnen?« fragte sie. Das waren wirklich schlechte Nachrichten.
»In wenigen Tagen, spätestens Ende der Woche.«
Brocc machte seine Rolle als Gastgeber für eine Versammlung, bei der er selbst der Angeklagte war, sichtlich nervös. »Sag mir, Kusine, weißt du schon, wer Dacan ermordet haben könnte?«
Seine Stimme klang fast bittend, aber Fidelma konnte ihm nicht helfen.
Sie stand auf, ging zum Fenster und spähte hinunter in die Bucht.
»Als wir in Ros Ailithir einliefen, sah ich, daß Mu-grons Kriegsschiff immer noch da draußen ankert.«
Brocc ließ die Schultern hängen.
»Laigin geht nicht von seiner Klage ab, bis die Ratsversammlung zusammentritt.«
»Ich vermute, der Großkönig und sein Gefolge kommen zu Schiff?«
»Wie auch der König von Laigin und sein Hofstaat«, bestätigte Brocc. »Ich soll sie alle beherbergen. Bruder Rumann und Bruder Conghus wissen schon nicht mehr, wo sie die zusätzlichen Unterkünfte und die Verpflegung hernehmen sollen. Ach, und das bedeutet auch, daß dir das gesonderte Zimmer, in dem du die Untersuchungen geführt hast, nicht mehr zur Verfügung steht. Du kannst dein persönliches Zimmer im Gästehaus weiter benutzen, wie es deinem Rang gebührt, aber der Krieger, wie heißt er ... Cass? Er wird sich mit einem Bett in einem der Schlafsäle begnügen müssen.«
»Das läßt sich nicht ändern. Du hast viel um die Ohren mit den Vorbereitungen für die Versammlung.«
Brocc schaute sie besorgt an.
»Du auch, Kusine, denn von dir hängt unser aller Zukunft ab.«
Daran brauchte Brocc sie nicht zu erinnern. Die Worte aus dem Lukasevangelium kamen ihr in den Sinn: »Denn welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern.« Noch nie seit ihrer Zulassung zum Gericht war soviel von ihr gefordert worden. Sie spürte diese Verantwortung schwer auf sich lasten. Trotz aller ihrer Anstrengungen war sie immer noch zu keinem Ergebnis gelangt.
»Es ist nur so, daß ich anfange, mir Sorgen zu machen, Kusine«, gab Brocc zu. »Ich habe noch nie an einer Ratsversammlung des Großkönigs teilgenommen«, fuhr er fort. »Stünde ich nicht unter Anklage als Verantwortlicher in dieser Angelegenheit, dann wäre es ein erhebendes Erlebnis für mich.«
Fidelma hob spöttisch die Brauen.
»Erhebendes Erlebnis? Es könnte auch ein verhängnisvolles werden, wenn es mir nicht gelingt, dich zu entlasten und zu verhindern, daß der Anspruch Laigins zum Krieg zwischen den beiden Königreichen führt.«
Verlegenes Schweigen trat ein, dann sagte Fidelma: »Du hast mir noch nicht berichtet, ob es etwas Neues von Schwester Grella gibt. Ich nehme an, sie ist nicht zurückgekehrt?«
Brocc bestätigte ihre Vermutung.
»Nein. Sie ist nach wie vor verschwunden. Aus dem, was du mir erzählt hast, schließe ich, daß sie wohl wegen ihrer Schuld geflohen ist.«
Fidelma erhob sich.
»Das werden wir sehen. Ich brauche die Sachen, die ich dir zur Verwahrung gegeben habe.«
Brocc nickte bereitwillig und langte unter den Tisch nach den Schlüsseln. Sie sah zu, wie er zur Truhe trat und sie öffnete. Er nahm ihr marsupium heraus und reichte es ihr.
Schnell ging sie den Inhalt durch, um zu sehen, ob noch alles da sei.
Jemand hatte den Beutel durchsucht. Das angebrannte Stück Ogham-Stab und die Pergamentblätter, die sie in Schwester Grellas Zimmer gefunden hatte, fehlten. Doch die Leinenstreifen und der Rock, von dem man sie abgerissen hatte, waren noch vorhanden.
»Was ist?« fragte Brocc.
»Jemand hat einige wichtige Beweisstücke aus meinem Beutel entfernt.«
»Das verstehe ich nicht, Kusine«, sagte Brocc leise. Er sah ziemlich verwirrt aus und war vor Scham rot geworden.
»Wann hast du diese Truhe zum letztenmal geöffnet, Brocc?« fragte sie.
»Als du mich batest, den Beutel dort sicher zu verwahren.«
»Und wo hattest du die Schlüssel?«
»Sie hängen, wie du gesehen hast, an einem Haken unter diesem Tisch.«
»Und wie viele Leute wissen davon?«
»Ich dachte, ich wäre der einzige, der weiß, wo sie sind.«
»Es würde keine große Mühe bereiten, sie zu finden. Wie viele Leute wissen, daß manchmal wertvolle Dinge in der Truhe aufbewahrt werden?«
»Nur einige der höheren Geistlichen der Abtei.«
»Und es versteht sich von selbst, daß sich jeder Zutritt zu deinem Zimmer verschaffen kann, während du die Pflichten deines Amtes erfüllst?«
»Keiner der Brüder dieser Abtei würde so ein Verbrechen begehen und seinen Abt bestehlen, Kusine. Es verstößt entschieden gegen alle Regeln unseres Ordens«, erwiderte Brocc empört.
»Das tut Mord auch«, meinte Fidelma trocken. »Dennoch hat jemand in dieser Abtei sowohl Dacan als auch Schwester Eisten getötet. Du sagst, nur die höheren Geistlichen der Abtei wissen, daß manchmal Dinge von Wert hier hinterlegt werden. Wer zum Beispiel?«
Brocc rieb sich das Kinn.
»Bruder Rumann natürlich. Bruder Conghus. Unser Rektor, Bruder Segan. Bruder Midach ... ach, natürlich auch Schwester Grella. Aber sie ist nicht hier. Das sind alle.«
»Das sind genug. Hast du zufällig erwähnt, daß ich etwas bei dir hinterlegt hatte, während ich fort war?«
Brocc wurde noch röter.
»Meine höheren Mitarbeiter fragten mich allerdings, wohin du gereist seist«, gestand er zögernd ein. »Ich konnte es ihnen nicht sagen, da ich es selbst nicht wußte. Aber sie sind alle in Sorge und hoffen natürlich, daß die Morde aufgeklärt werden. Ich erzählte ihnen, du hättest schon Beweismaterial, das du hier bei mir gelassen hättest . Ja, ich glaube, ich erwähnte, daß . ich sagte, Schwester Grella sollte festgesetzt werden, bis du zurückkämst, und .«
»Also würde jemand nicht lange brauchen, den Aufbewahrungsort der Schlüssel zu finden. Du hättest ihnen auch gleich eine Beschreibung liefern können«, stellte Fidelma verärgert fest. Brocc machte eine hilflose Geste. »Es tut mir wirklich leid.«
»Mir auch, Brocc«, sagte Fidelma. Broccs Sorglosigkeit hatte zum Verlust der entscheidenden Beweisstücke geführt. »Der Diebstahl wird mich nicht daran hindern, die Schuldigen aufzuspüren, aber möglicherweise hindert er mich daran, ihnen ihre Schuld nachzuweisen.« Damit verließ sie das Zimmer.
Die erste Person, die ihr begegnete, als sie über die Höfe zum Gästehaus eilte, war Schwester Necht. Sie schien zu erschrecken, als sie Fidelmas ansichtig wurde.
»Ich dachte, du seist abgereist«, grüßte sie mit ihrer langsamen, dunklen Stimme.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht fort, ehe nicht meine Untersuchung abgeschlossen ist.«
»Ich habe gehört, du hast angeordnet, Schwester Grella festnehmen zu lassen.«
»Schwester Grella ist verschwunden.«
»Ja. Jeder weiß das und glaubt, daß sie geflohen ist. Hat schon mal jemand auf Salbachs Burg in Cuan Doir nach ihr gesucht?« sagte die Novizin.
»Weshalb?« fragte Fidelma überrascht.
»Weshalb?« Schwester Necht rieb sich das Gesicht und überlegte einen Moment. »Weil sie dort häufig zu Besuch war, ohne es jemandem zu sagen. Sie ist eng mit Salbach befreundet.« Necht hielt inne und lächelte. »Ich weiß das, weil Schwester Eisten es mir erzählt hat.«
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