Sie kehrte zum Fenster zurück und spähte durch den Spalt des Vorhangs hinunter. Sie hörte, wie ihr Vetter Finguine sagte: »Es ist klar, daß sie nicht hier sind, So-lam. Es lohnt sich nicht, den Gastwirt zu wecken.«
»Besser, man vergewissert sich, als daß man von einer Vermutung ausgeht, die falsch sein kann«, erwiderte der Anwalt der Ui Fidgente.
»Na gut.« Er wandte sich an einen seiner Männer. »Hol den Gastwirt und . nein, warte, da kommt jemand.«
Adag kam aus dem Stall heraus, und Fidelma sah, wie er sich den Reitern näherte.
»Kann ich euch helfen, Lords?« fragte er mit vor Stolz hoher Stimme.
»Wer bist du denn, mein Junge?« wollte Solam wissen.
»Ich bin Adag, der Sohn des Gastwirts hier.«
Eadulf richtete sich auf seiner Matratze auf.
»Was ist ...?« fragte er.
Fidelma legte rasch den Finger an die Lippen. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, sah sie, wie der Junge auf die Straße nach Cashel zeigte.
»Du hast uns sehr geholfen, Junge«, sagte Finguine. »Hier, das ist für dich!«
Eine Münze blinkte in der Luft.
Adag fing sie geschickt auf.
Finguine stieß seinem Pferd die Sporen in die Weichen, und der ganze Trupp trabte vom Hof und in Richtung Cashel davon. Erst da erfaßte Fidelmas Blick im Lampenlicht für einen Moment das Gesicht des siebenten Reiters. Es war Nion, der bo-aire von Imleach.
Fidelma zog den Vorhang zu und seufzte tief auf.
»Was geht denn vor?« wollte Eadulf wissen.
Sie schaute auf den schlafenden Bruder Mochta und dann zur Treppe, die Adag mit strahlendem Gesicht heraufgestürmt kam.
»Sie sind nach Cashel losgeritten, Schwester«, verkündete er atemlos.
»Was wollten sie denn?«
»Sie wollten wissen, ob sich diese Nacht jemand im Gasthaus aufhalte. Ich hab ihnen gesagt, es wären ein paar Männer mit Wagen dagewesen, die nach Cashel weitergefahren sind. Von dir und deinen Freunden hab ich nichts gesagt. Die Reiter bedankten sich und ritten in Richtung Cashel weiter. Sie interessierten sich anscheinend sehr für die Wagen.«
Eadulf schaute verwundert zwischen ihr und dem Jungen hin und her.
»Die Reiter waren Finguine und Solam«, erläuterte Fidelma langsam. »Und Nion war bei ihnen.«
Die Reise vom Brunnen von Ara bis nach Cashel verlief ohne Zwischenfälle. Überraschenderweise bewachten keine Krieger mehr die Brücke über den Fluß Suir an der kleinen Gabelung von Gabhailin, wo Fi-delma und Eadulf vor wenigen Tagen auf dem Hinweg der Übergang verwehrt worden war. Fidelma meinte, es sei logisch, daß Gionga seine Krieger abgezogen hätte, als er erfuhr, daß Fidelma Imleach erreicht hatte.
Es war Eadulf, der das Problem ansprach, das Fi-delma seit dem Aufbruch aus Aonas Gasthaus am meisten beschäftigte.
»Ist es klug, Bruder Mochta nach Cashel zu schaffen?« fragte er. »Dort könnten die verschiedensten Gefahren auf ihn lauern, und es dauert noch mehrere Tage, bis die Brehons zur Verhandlung zusammentreten.«
Bruder Mochta fühlte sich nach der Nachtruhe etwas besser, seine Wunden schmerzten weniger.
»Unter den Brüdern in Cashel kann mir doch nichts passieren«, meinte er.
»Ich sähe es lieber, wenn erst im letzten Moment bekannt wird, daß du und das Reliquiar sich in Cashel befinden«, erklärte Fidelma. »Es gibt einen kaum benutzten Weg, der uns an den Rand der Stadt zu einem Haus führt, wo eine Freundin von mir wohnt. Bei ihr kann Mochta bis zum Tag der Verhandlung bleiben.«
»In der Stadt selbst?« wandte Eadulf ein. »Ist das günstig?«
Er spielte auf die Tatsache an, daß die Leute in den Städten kaum jemals ihre Türen verriegelten und in den Nachbarhäusern ständig aus und ein gingen. Städte bestanden zumeist aus den Wohnstätten von Großfamilien. Niemand dort hatte Scheu vor Fremden.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Fidelma. »Meine Freundin gehört nicht zu denen, die häufig Gäste haben.«
»Ich denke, ihr macht euch die ganze Mühe umsonst«, sagte Bruder Mochta. »Wer sollte mir denn im Königspalast von Cashel etwas tun?«
Fidelma zog die Mundwinkel herab. »Genau das müssen wir herausfinden«, antwortete sie ruhig. »Mein Bruder hat mir dieselbe Frage gestellt.«
Einige Zeit später erreichten sie auf dem Weg, den Fidelma sie geführt hatte, Cashel. Fidelma ließ Eadulf und Bruder Mochta am Rande der Stadt im Schutz eines kleinen Gehölzes zurück, mit der Begründung, sie wolle voranreiten und den Weg erkunden. Schon nach kurzer Zeit war sie wieder da. Bruder Mochta schaute sie entsetzt an, denn sie trug das Reliquiar nicht mehr bei sich, das sie seit Imleach so sorgfältig gehütet hat-te. Doch sie versicherte ihm, es sei bei ihrer Freundin gut aufgehoben. Sie führte sie zu einem Haus, das etwas abseits von den anderen stand. Es war von mittlerer Größe und hatte eigene Nebengebäude. Fidelma brachte sie sofort in eines davon, das als Pferdestall diente. Eadulf hob Bruder Mochta aus dem Sattel, und Fidelma band die Pferde an.
Dann schritt Fidelma ihnen voran zum Haus, Ea-dulf stützte Bruder Mochta. Die Tür öffnete sich, und gemeinsam halfen sie Bruder Mochta hinein. Fidelma sah sich rasch um, ob jemand sie beobachtet habe, dann schloß sie die Tür von innen.
Dort stand eine Frau von kleiner Statur. Sie war in den Vierzigern, doch ihr Gesicht wirkte noch jugendlich, und ihr üppiges Haar schimmerte golden. Sie trug ein kittelähnliches Kleid, das ihre gute Figur, ihre schmalen Hüften und ihre wohlgeformten Glieder betonte.
»Dies ist meine Freundin Della«, stellte Fidelma sie vor. »Dies ist Bruder Mochta, der bei dir wohnen wird, und dies Bruder Eadulf.«
Eadulf lächelte der attraktiven Frau anerkennend zu.
»Weshalb habe ich Fidelmas Freundin noch nie am Hofe Colgüs gesehen?« fragte er zur Begrüßung.
Sofort spürte er, daß er etwas Falsches gesagt hatte.
»Ich gehe kaum aus dem Haus, Bruder«, erwiderte Della. Ihre Stimme war ernst, aber angenehm. »Ich lebe zurückgezogen. Die Leute von Cashel respektieren das.«
Fidelma fügte beinahe scharf, als wolle sie eine Taktlosigkeit überspielen, hinzu: »Aus diesem Grunde ist Bruder Mochta hier bis zum Tag der Verhandlung sicher aufgehoben.«
»Du lebst zurückgezogen?« wunderte sich Eadulf. »Ist das nicht sehr schwierig in so einer Stadt?«
»Man kann auch unter vielen für sich allein sein«, erwiderte Della ruhig.
»Du wirst Bruder Mochta gut versorgen, Della?« Fidelma bedeutete Eadulf mit einem Blick, daß er genug geredet habe.
Della lächelte. »Darauf hast du mein Wort, Fidelma.« Sie hatte Mochta schon zu einem Lager geleitet. Daneben stand das Reliquiar des heiligen Ailbe. Als Bruder Mochta es erblickte, wurde ihm sichtlich wohler.
Fidelma nahm Eadulf, der offenbar gern noch ein wenig geplaudert hätte, am Arm und führte ihn zur Tür.
»Wir kommen rechtzeitig vor der Verhandlung zurück, Bruder Mochta. Pflege deine Wunden.«
Mit einer Handbewegung verabschiedete sie sich von dem Mönch und lächelte ihrer Freundin dankbar zu.
Als sie draußen wieder ihre Pferde bestiegen, sagte Eadulf: »Eine seltsame Freundin hast du, Fidelma.«
»Della? Nein, seltsam ist sie nicht, nur traurig.«
»Warum sollte sie traurig sein? Sie sieht doch noch gut aus und scheint auch keine Not zu leiden.«
»Ich verrate dir jetzt etwas, worüber du nie reden sollst. Della war eine Frau mit Geheimnissen.« Sie benutzte den Ausdruck be-taide.
»Eine Frau mit Geheimnissen? Was bedeutet denn das?« Dann schien er zu begreifen. »Heißt das, sie war eine Prostituierte?« Er hatte das Wort echlach aus seinem Gedächtnis ausgegraben.
Fidelma nickte knapp. »Sprich also lieber nicht darüber. Es ist ein heikles Thema.«
Sie waren nun auf der Hauptstraße von Cashel und ritten an einem Gasthaus vorüber. Ein Mann mit einem Trinkhorn in der Hand stand davor. Er starrte sie an und lief dann hinein. Eadulf tat so, als habe er ihn nicht bemerkt, doch als sie vorbei waren, sagte er zu Fidelma: »Ich habe gerade Nion vor dem Gasthaus dort stehen sehen. Er hat uns bestimmt erkannt, wollte aber nicht gesehen werden.«
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