Fidelma wollte weder zu optimistisch sein noch ihrem Bruder die ganze Wahrheit sagen.
»Ich glaube, ich sehe verschiedene Wege, auf denen man zum Ziel gelangen kann. Aber leider kenne ich die Schuldigen noch nicht.«
»Das habe ich mir schon gedacht, denn sonst hättest du es mir gleich gesagt. Offenbar müssen wir uns darauf verlassen, daß du während der Verhandlung im Gerichtssaal die Wahrheit zu ergründen vermagst.«
Fidelma wünschte, sie könnte ihrem Bruder Mut machen, doch sie wußte nicht wie und fragte: »Hat Donennach von den Ui Fidgente immer noch die Absicht, dich der Verschwörung zu beschuldigen?«
»Soviel ich weiß, will Solam die Anklage erheben, ich sei an einer Verschwörung mit dem Ziel beteiligt, Donennach zu ermorden. Die Adligen von Muman haben zu erkennen gegeben, daß sie das nicht dulden wollen. Zu Recht oder Unrecht glauben sie an mich als an ihren König und sind der Meinung, ich hätte nichts Böses getan .«
»Das stimmt.«
»Aber wir müssen in der Lage sein, es zu beweisen. Wenn ich und die Eoghanacht vom Gericht verurteilt werden, fürchte ich, daß die Adligen das für einen Teil der Verschwörung halten werden, so wie Donndub-hain es tun wird! Dann werden sie sich selbst das Recht nehmen, die Ui Fidgente zu bestrafen. Donn-dubhain ist zunehmend erbost über das Verhalten der Ui Fidgente. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß sie es waren, die Imleach überfielen. Es kann so weit kommen, daß Donndubhain die Adligen zum Angriff gegen alle Clans der Dal gCais führt. Das Königreich könnte von Kriegen zerrissen werden. Statt Frieden zu erlangen, wie ich erhofft hatte, könnten wir in einen neuen, Jahrhunderte andauernden Kreislauf von Konflikten geraten.«
»Die Adligen von Muman werden dir gehorchen, wenn du ihnen befiehlst . «, begann Fidelma, doch ihr Bruder unterbrach sie: »Sie murren bereits und erheben Drohungen gegen die Ui Fidgente. Sie behaupten, die ganze Angelegenheit sei ein wohlbedachter Versuch, die Eoghanacht und die Macht Cashels zu vernichten. Was kann ich ihnen entgegenhalten, was den Überfall auf Imleach betrifft?«
»Wir wissen noch nicht, ob es wirklich die Ui Fid-gente waren«, entgegnete Fidelma. »Bruder, du mußt die Adligen von Muman im Zaum halten, denn wenn vor der Verhandlung etwas passiert, dann stehen wir vor den fünf Königreichen von Eireann tatsächlich als die Schuldigen da.«
Colgü schaute unglücklich drein. »Ich bemühe mich mit allen Kräften darum, Fidelma. Doch ich fürchte . ja, wirklich . Ich weiß, wie hitzköpfig einige der jungen Adligen sind. Sie könnten das Recht mit ihren Schwertern erzwingen wollen und ins Land der Ui Fidgente einfallen, um Rache für die Zerstörung des großen Eibenbaums von Imleach zu nehmen.«
»Ich kann dir nur sagen, Bruder, daß mehr hinter dieser Sache steckt als nur das Mißtrauen zwischen den Eoghanacht und den Ui Fidgente. Sag mir, ich war ja eine ganze Zeit nicht in Cashel, gab es jemals eine Mißstimmung zwischen dir und Finguine von Cnoc Äine?«
Die Frage verwirrte Colgü sichtlich.
»Zwischen Finguine und mir? Unserem Vetter? Warum das?«
»Gab es Mißstimmungen oder nicht?« hakte Fidel-ma nach.
»Nicht, daß ich wüßte. Weshalb fragst du?«
»Als die derbfhine unserer Sippe zusammentraten, um einen Tanist für seinen Vater Cathal Cü cen Mathair zu bestimmen, kam es da zu einer Auseinandersetzung zwischen euch?«
Cathal war vor Colgü König von Cashel gewesen.
»Ich glaube nicht«, erwiderte ihr Bruder.
»Cathal hatte zwei Söhne«, gab sie zu bedenken, »Finguine, den jetzigen Fürsten von Cnoc Äine, und Ailill, den Fürsten von Glendamnach. Finguine war damals schon in einem Alter, in dem er zum Tanist hätte gewählt werden können. Sicherlich war er ge-kränkt, daß er nicht zum Nachfolger seines Vaters als König von Cashel bestimmt wurde?«
»Das waren auch viele andere der derbfhine, die ebenso dazu geeignet waren, Fidelma. Aber so regelt unser Gesetz die Nachfolge des Königs. Das war schon so, als unser Ahnherr Eber Fionn mit den Kindern Gaels dieses Land besiedelte, und so wird es auch bleiben, solange es noch edle gälische Familien in diesem Lande gibt. Unser jüngerer Bruder Fogartach hätte leicht mein Tanist werden können, wenn er gewollt hätte, aber er zieht es vor, sich aus der Politik herauszuhalten. Als Donndubhain zu meinem Nachfolger gewählt wurde, waren sicher viele unserer Vettern enttäuscht. Doch der Thronerbe wird immer von den derbfhine der Sippe gewählt, er wird von ihnen ernannt und bestätigt.«
Fidelma wußte selbst sehr gut, wie in den Königreichen von Eireann die Thronfolge geregelt wurde. Es gab kein automatisches Erbrecht des ältesten Sohnes wie in anderen Ländern. Bei den Nachkommen Gaels bildete die Sippe des Königs ein Wahlkollegium, und als Tanist oder Thronfolger wurde derjenige gewählt, der sich am besten zum König eignete; es konnte ein Sohn des Königs sein, aber ebensogut ein Bruder, Onkel oder einer seiner Vettern. Für gewöhnlich ernannte man einen männlichen Tanist, doch es hatte Fälle gegeben, in denen eine Frau gewählt wurde, allerdings nur für ihre Lebenszeit, denn ihre Nachkommen gehören zum Clan ihres Vaters und nicht zum Clan des Vaters ihrer Mutter.
»Also, weshalb fragst du mich so etwas?« erkundigte sich Colgü noch einmal.
»Aus reinem Interesse. Mir kam da eben ein Gedanke.«
»Nun, ich kann mich an keine Mißstimmung zwischen Finguine und mir erinnern, als ich zum Nachfolger Cathals bestimmt wurde, allerdings ...« Er hielt inne, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen.
Fidelma sah ihn forschend an. »Was denn?«
»Ich erinnere mich, daß es einen Streit zwischen Finguine und Donndubhain gab, als dieser zu meinem Tanist gewählt wurde. Finguine galt als erster Anwärter, doch er scheint die Entscheidung akzeptiert zu haben. Damals war er zweifellos verärgert. Obwohl ich das nicht ganz verstehe. Finguine ist fast im selben Alter wie ich, und ich gedenke noch lange zu leben, also sind seine Aussichten, jemals König zu werden, ziemlich gering, auch wenn er mein Thronfolger wäre.« Colgü lächelte seine Schwester an: »Ich möchte noch lange König von Muman bleiben, allen Verschwörungen und Attentaten zum Trotz.«
»Dann«, meinte Fidelma ruhig, »habe ich noch viel zu tun, Bruder, damit das Urteil nicht gegen uns ausfällt.«
Nach der Mittagsmahlzeit suchte sie Eadulf auf, und beide machten einen Spaziergang auf der Palastmauer. Der Wind wehte kräftig von Süden, und es war kühl. Sie hatten sich in ihre Wollmäntel gehüllt und trotzten dem Eishauch des Winds auf den Zinnen.
»Anscheinend gibt es eine Menge Aufregung in Cashel«, bemerkte Eadulf, als sie auf die Stadt hinunterschauten. »Von allen Seiten strömen die Menschen herbei, um an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Wie ich hörte, stehen viele den Ui Fidgente seit dem Überfall auf Imleach und der Zerstörung des Eibenbaums recht feindselig gegenüber.«
Fidelma sah ihn besorgt an. »Hast du jemals tomus gespielt?« fragte sie.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, versicherte er.
»Das Wort bedeutet >heraussuchen< oder >abwägen<. Tomus nennen wir ein Spiel, bei dem man viele kleine Holzstücke so zusammensetzen muß, daß sie ein Bild ergeben.«
»Nein, dem bin ich noch nicht begegnet.«
»Macht nichts. Ich habe das Gefühl, daß alle Teile auf einem Tisch ausgebreitet vor mir liegen. Manche ergeben bereits ein Muster. Andere könnten hieroder dorthin passen. Ich brauche noch ein einziges Stück, das zu allen anderen paßt, damit ein klares Bild entsteht.«
»Damit meinst du, daß du der Lösung des Rätsels sehr nahe bist?«
Fidelma seufzte tief auf. »So nahe . und doch .«
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