»Fidelma!«
Sie wandten sich nach dem Rufer um und standen Finguine gegenüber, der ihnen nachgekommen war. Er hatte sich ebenfalls gegen den Wind gewappnet, der um den Felsen von Cashel heulte: sein dicker, ein-gefärbter Wollmantel wurde am Hals von seiner silbernen Spange mit dem von Granatsteinen gezierten Sonnensymbol zusammengehalten.
»Ich bin froh, daß du wohlbehalten zurück bist. Hätte ich gewußt, daß du Imleach fast zur selben Zeit verläßt wie ich, hätte ich dir meinen Schutz angeboten.«
Fidelma sah ihren hübschen Vetter nachdenklich an und versuchte in seinem lächelnden Gesicht zu lesen.
»Ich wäre wahrscheinlich keine passende Gesellschaft für Solam gewesen«, meinte sie.
Er lachte mit entwaffnender Offenheit. »Solam? Hätte ich dieses kleine Frettchen nicht unter meine Fittiche genommen, wäre er womöglich nie hier angekommen. Hast du schon gehört, welcher Zorn auf die Ui Fidgente sich hier anstaut? Die Nachricht von dem Überfall auf Imleach hat sich rasch verbreitet. Die Zerstörung des heiligen Eibenbaums werden die Menschen hier den Ui Fidgente niemals vergeben.«
»Also sind alle überzeugt, daß es die Ui Fidgente waren?« forschte Fidelma. »Ich weiß nur, daß Nion, der bo-aire von Imleach, fest daran glaubt.«
Finguine runzelte die Stirn. »Nion? Ja, er ist sich sicher, daß es eine Verschwörung gibt . und zwar hier in Cashel.«
»Hat er dich deshalb begleitet?« fragte Fidelma harmlos.
»Du hast also Nion im Palast gesehen? Ja, deshalb ist er mitgekommen, damit er hier aussagen kann. Wenn er das tut, dann wird das denen, die Cashel an die Ui Fidgente verraten wollen, das Genick brechen.«
Fidelma wunderte sich über seinen eigenartigen Tonfall. Ihr schien, Finguine wolle ihr etwas andeuten.
»Bist du auch Nions Meinung?«
»Jeder ist das. Man erwartet von dir, daß du als dalaigh von Cashel in der Verhandlung den Fürsten der Ui Fidgente erledigst. Die Augen aller Adligen von Muman werden auf dir ruhen. Es wird eine beträchtliche Entschädigung gefordert, und durch diese Ersatzleistung stehen dann die Ui Fidgente für immer in unserer Schuld und können sich nicht mehr gegen uns erheben.«
»Das klingt eher nach Bestrafung als nach Entschädigung«, meinte Fidelma.
Finguines Stimme wurde hart. »Natürlich. Wir sollten jetzt den Samen der Vernichtung unter den Ui Fidgente ausstreuen. Zu lange schon haben sie die Eoghanacht von Muman gereizt. Wenn unsere Kinder in Frieden leben sollen, müssen wir dafür sorgen, daß sie so von unserem Zorn niedergedrückt werden, daß sie nie wieder ihre Augen erheben und neidische Blik-ke gegen Cashel richten können!«
»Im Brief an die Galater steht geschrieben: >Was der Mensch sät, das wird er ernten<���«, erinnerte ihn Fidel-ma.
»Unsinn!« fauchte Finguine. »Soll das heißen, du trittst für die Ui Fidgente ein? Denke daran, daß du eine Verpflichtung gegenüber Cashel hast. Du stehst bei deinem Bruder in der Pflicht!«
Fidelma errötete. »Du brauchst mich nicht an mei-ne Pflicht zu erinnern, Fürst von Cnoc Äine«, erwiderte sie kühl.
»Dann denk an die Worte des Euripides, denn ich weiß, daß du gern die Autoren der Antike zitierst. Die Götter messen jedem sein Schicksal zu, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Den Ui Fidgente wird ihr Schicksal zugemessen, und die Zeit dafür ist nahe.«
Der Fürst von Cnoc Äine drehte sich um und schritt davon, sein Temperament war wohl mit ihm durchgegangen.
Eadulf schüttelte verwundert den Kopf. »Dieser junge Mann ist ein rechter Hitzkopf«, stellte er fest.
»Er wird Dornen säen und dann Rosen ernten wollen, wenn man ihn nicht davon abhält«, pflichtete ihm Fidelma ernst bei.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, und sie erreichten eine schützende Zinne. Sie beugten sich vor und schauten auf die Stadt. Obwohl es schon spät war, schien sie voller Leben: Pferde, Reiter, Wagen und Menschen drängten sich in den Straßen.
»Wie Zuschauer, die auf den Beginn eines Schauspiels warten«, meinte Eadulf. »Es sieht aus wie an einem Markttag.«
Fidelma antwortete nicht. Sie wußte, daß ihr Vetter Finguine für viele von denen sprach, die sich dort unten versammelten. Doch wenn ihn ein solcher Zorn auf die Ui Fidgente erfüllte, wieso steckte er dann mit Solam zusammen? Sie konnte nicht recht glauben, daß er Solam lediglich aus Pflichtgefühl Geleitschutz nach Cashel gegeben hatte. Warum ritten er und Solam durch den Wald und suchten nach Bruder Mochta und den heiligen Reliquien? Was wußten sie davon? Nein, irgend etwas stimmte da nicht.
Ihr Blick fiel plötzlich auf das Dach des Lagerhauses auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes. Es war Samradans Lagerhaus.
»Samradans Lagerhaus«, sprach sie nachdenklich. »Ich glaube, ein Teil unserer Lösung ist dort zu finden.«
»Das verstehe ich nicht ganz«, erwiderte Eadulf und folgte ihrem Blick.
»Macht nichts. Heute abend, wenn es dunkel ist, werden wir Samradans Lagerhaus einen Besuch abstatten. Dort hat die ganze Geschichte begonnen. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß wir von dort aus auch zur Lösung des Rätsels gelangen werden.«
Gehorsam folgte Eadulf Fidelma in die Nacht hinaus. Sie verließen die düsteren Mauern des Palasts durch eine kleine Seitentür, um den neugierigen Blicken der Wachen am Haupttor zu entgehen. Die Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch über die Stadt gebreitet. Niedrig ziehende Wolken verhüllten den Mond.
Immerhin schaffte es der helle Mond, ab und zu durch Wolkenlücken zu brechen und das Land für Augenblicke in ein Licht zu tauchen, das fast taghell erschien. Außer den Lichtern, die aus den Gebäuden schimmerten, ließ auch beißender Rauch aus zahlreichen Schornsteinen erkennen, daß die Menschen sich bemühten, die Herbstkälte zu vertreiben. In der Stadt gab es nur wenig Bewegung. Die meisten Besucher, die sich noch vor wenigen Stunden in den Straßen drängten, hatten sich in die Gasthäuser und Herbergen zurückgezogen, aus denen gedämpfter Lärm zu vernehmen war. Gelegentlich bellte ein Hund, und ein paarmal kreischten Katzen, die sich um ein Revier balgten.
Fidelma und Eadulf erreichten den Marktplatz, ohne daß sie irgend jemand bemerkt hätte.
»Das ist Samradans Lagerhaus«, erklärte Fidelma überflüssigerweise, denn Eadulf hatte die Ereignisse bei dem Attentatsversuch noch gut in Erinnerung. Das Lagerhaus stand dunkel und verlassen da.
Rasch überquerten sie den Platz, und Fidelma ging sofort zur Seitentür des Gebäudes. Sie war verschlossen.
»Ist sie von innen verriegelt?« fragte Eadulf, als Fi-delma vergeblich daran rüttelte.
»Nein. Ich glaube, sie ist nur abgeschlossen.«
Sie benutzte das Wort glas. Irische Schlosser waren sehr geschickt in der Herstellung von Schlössern, Schlüsseln und sogar Türketten zur Sicherung von Gebäuden und Zimmern. Manche Schlösser waren sehr kompliziert. Doch als Student in Tuaim Brecain hatte Eadulf auch die Kunst gelernt, ein Schloß durch Einführen eines Metallstifts in das poll-eochrach oder Schlüsselloch zu öffnen. Er langte in seine Tasche, holte ein kurzes Stück Draht hervor, das er immer bei sich trug, und grinste im Dunkeln.
»Dann tritt mal beiseite. Du brauchst einen Experten«, verkündete er und machte sich an dem Schloß zu schaffen.
Er benötigte länger als erwartet und spürte Fidel-mas wachsende Ungeduld. Er wünschte schon, er wäre nicht so zuversichtlich gewesen, doch dann vernahm er das verräterische Klicken, das ihm seinen Erfolg anzeigte.
Er faßte den Griff, und die Tür ging nach innen auf.
Wortlos trat Fidelma ein. Er folgte ihr und schloß die Tür sorgfältig hinter ihnen.
Im Lagerhaus war es dunkel, sie sahen nichts.
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