Fidelma schien das nicht zu erstaunen. »Nachdem er heute morgen bei Aona auftauchte, habe ich damit gerechnet, daß er jetzt in Cashel ist«, sagte sie.
»Wie hast du dich mit Della angefreundet?« wechselte Eadulf enttäuscht das Thema.
»Ich war ihre Anwältin, als man sie vergewaltigt hatte«, antwortete Fidelma gelassen.
Eadulf verzog spöttisch das Gesicht. »Eine Prostituierte vergewaltigt?«
»Kann denn eine Frau nicht vergewaltigt werden, nur weil sie eine Prostituierte ist?« fragte Fidelma geradezu wütend. »Bei uns jedenfalls gilt, daß ihr eine Entschädigung zusteht, falls ihr so etwas zustößt, auch wenn sie eine be-tdide ist. Ihr halber Sühnepreis wird fällig.«
Eadulf fühlte sich getroffen von der Heftigkeit ihrer Entgegnung. »Ich dachte, daß einer Prostituierten eine solche Entschädigung nicht zustünde, und glaubte, sie könnte kein Eigentum erwerben«, lenkte er ein.
Fidelma ließ sich etwas besänftigen. »Sie kann Eigentum von ihren Eltern erben, doch im allgemeinen kann sie es nicht durch Heirat oder in einer Lebensgemeinschaft erwerben. Wenn Nutzen durch ihre Arbeit in einer solchen Verbindung entsteht, hat sie keinen Anspruch auf einen Anteil daran.«
Eadulf lächelte befriedigt. »Dann hatte ich also doch recht?«
»Nur daß du übersehen hast, daß eine Prostituierte sich von ihrer bisherigen Lebensweise abwenden und wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden kann.«
»Und Della hat das getan?«
Fidelma bejahte es mit einer Geste. »Bis zu einem gewissen Grade. Nach der Vergewaltigung, die zu der Gerichts-Verhandlung führte, bei der ich ihre Anwältin war, sagte sie sich von ihrem früheren Leben los und zog sich in das Haus zurück, das ihrem Vater gehört hatte. Das war vor ein paar Jahren. Bedauerlicherweise behandeln sie einige Leute immer noch mit Verachtung. Zu ihrem eigenen Schutz ist sie zur Einsiedlerin geworden.«
»Das ist aber keine Lösung«, erwiderte Eadulf. »In der Abgeschiedenheit findet man nur das, was man selbst mit hineingenommen hat.«
Fidelma schaute ihn an. Ab und zu formulierte Eadulf etwas so treffend, daß ihr wieder einmal klar wurde, warum sie den angelsächsischen Mönch mochte und sich auf ihn verließ. Zu anderen Zeiten wirkte er ungeschickt und ohne Gespür für Menschen und Situationen. Er war von zwiespältiger Art: einerseits brillant und scharfblickend, andererseits schwer von Begriff und unaufmerksam. Ihm schien die Beständigkeit zu fehlen. Er war so sehr verschieden von ihrer eigenen klaren, analytischen Art und ihrem lebhaften Temperament.
Auf ihrem weiteren Weg durch Cashel fielen sie wieder in Schweigen. Viele Leute erkannten sie und begrüßten sie mit einem Lächeln, während andere in Gruppen beieinander standen, sie mit unverhohlener Neugier ansahen und flüsternd Bemerkungen austauschten. Schließlich kamen sie ans Tor des Königs-palasts.
Capa, der Kommandeur der Wache, stand davor.
»Willkommen daheim, Lady«, begrüßte er sie, als sie hineinritten. »Der Fürst von Cnoc Äine ist heute morgen hier eingetroffen, daher wußten wir, daß ihr auch bald kommen würdet.«
Fidelma wechselte einen Blick mit Eadulf.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, eilte ihr Vetter Donndubhain, der erwählte Nachfolger Colgüs, herbei und begrüßte sie lächelnd.
»Fidelma! Gott sei Dank, du bist in Sicherheit. Wir alle haben von dem Angriff auf Imleach gehört. Fürst Donennach bestreitet natürlich, daß die Ui Fidgente daran beteiligt waren ... Was soll er auch sonst tun?«
Fidelma war vom Pferd gestiegen, und ihr Vetter umarmte sie. Sie schnallte ihre Satteltasche ab, Eadulf folgte ihrem Beispiel.
»Ihr könnt uns sicher viel von dem Überfall auf die Abtei erzählen«, fuhr Donndubhain aufgeregt fort. »Als wir davon erfuhren, hatte ich zu tun, deinen Bruder davon abzuhalten, mit seiner Wache nach Im-leach zu reiten. Aber das ...« - er sah sich verschwörerisch um - »hätte Cashel ohne Schutz gelassen, und es war ja auch mit Gionga und seinem Trupp Ui Fidgen-te zu rechnen.«
Fidelma wies Capa an, ihre Pferde in den Stall führen und versorgen zu lassen. Dann fragte sie ihren Vetter: »Hat sich hier sonst etwas getan, was ich wissen sollte?«
Donndubhain schüttelte den Kopf. »Wir haben gehofft, du bringst Neuigkeiten mit, die die rätselhaften Ereignisse erklären helfen.«
Fidelma lächelte schwach. »Solche Dinge sind niemals einfach«, erklärte sie müde.
»Dein Bruder, der König, möchte dich gleich sprechen«, fuhr ihr Vetter fort. »Macht es dir etwas aus? Oder möchtest du dich erst von der Reise erholen?«
»Als erstes spreche ich mit Colgü.«
»Es ist nicht erforderlich, daß Bruder Eadulf dich begleitet«, sagte Donndubhain und eilte ihnen voran.
»Ich sehe dich später«, sagte Fidelma mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihrem Gefährten.
Colgü erwartete Fidelma in seinen Privatgemächern. Bruder und Schwester begrüßten sich herzlich, und Fidelma erkundigte sich sofort nach Colgüs Wunde.
»Dank unserem angelsächsischen Freund verheilt sie gut. Siehst du?« Er hob den Arm über den Kopf und bewegte ihn frei. »Sie ist noch etwas hinderlich, aber nicht entzündet, und bald wird alles wieder in Ordnung sein, wie er es versprochen hat.« Dann fragte er: »Hast du Bruder Eadulf nicht mitgebracht?«
Fidelma sah Donndubhain an, der an der Tür stand.
»Ich dachte, du wolltest mich allein sprechen?«
Colgü schaute einen Moment verblüfft drein.
»Ach ja. Schon gut, Donndubhain. Wir kommen gleich zu dir.« Nachdem Donndubhain gegangen war, deutete Colgü auf einen Stuhl. »Der Tanist ist zum fanatischen Anhänger der Verschwörungstheorie geworden, wenn’s nach ihm geht, lauern überall Feinde. Ich hoffe, Eadulf ist nun nicht beleidigt. Ich vertraue ihm voll und ganz.«
Fidelma setzte sich lächelnd. »Ich bin sicher, daß er dich nicht enttäuscht.«
»Was hast du in Imleach in Erfahrung bringen können? Wir haben von dem Überfall gehört. Unser Vetter Finguine, der Fürst von Cnoc Äine, kam heute vormittag hier an. Er berichtete uns die Einzelheiten.«
»Das hat man mir schon gesagt«, antwortete Fidel-ma. »Dem ist anscheinend wenig hinzuzufügen. Abt Segdae und die Zeugen aus Imleach werden in den nächsten Tagen hier eintreffen.«
»Zeugen?« fragte Colgü hoffnungsvoll.
»Ich glaube, daß die Ereignisse in Imleach - das Verschwinden der heiligen Reliquien und der Angriff auf die Stadt - alle mit dem Mordanschlag in Verbindung stehen. Wie geht es übrigens dem Fürsten der Ui Fidgente? Ich habe mich noch gar nicht nach seiner Wunde erkundigt.«
»Er hinkt noch leicht«, erwiderte Colgü spöttisch. »Seine Wunde hat sich gebessert, aber seine Laune hat sich verschlechtert. Sonst ist er bei bester Gesundheit und behauptet nach wie vor, es gebe eine Verschwörung gegen uns. Sein Leibwächter Gionga weicht kaum von seiner Seite.«
»Weißt du, daß Gionga Krieger auf der Brücke über den Suir postiert hatte, die uns nicht durchließen?«
»Das habe ich kurz darauf erfahren. Gionga oder sein Fürst, einer von beiden war schlau. Sobald bekannt wurde, daß du Imleach wohlbehalten erreicht hattest, kam Fürst Donennach zu mir und erklärte mir, Gionga habe in seinem Eifer dort eine Wache aufgestellt, um zu verhindern, daß sich die Komplizen der Attentäter aus dem Staube machen. Die Krieger hätten ihre Befehle falsch verstanden und versucht, dich an der Reise nach Imleach zu hindern. Donen-nach entschuldigte sich wortreich und sagte, er habe den Kriegern den Befehl zum Abzug gegeben.«
Fidelma lachte höhnisch. »Wer das wohl glauben soll! Sie hatten den ausdrücklichen Befehl, mir den Weg nach Imleach zu sperren. Das haben sie deutlich gesagt.«
»Aber können wir das beweisen? Donndubhain ist ja auch fest von einer Verschwörung der Ui Fidgente überzeugt, doch welche Beweise hat er dafür? Bald ist der Tag der Gerichtsverhandlung. Wie ich gehört habe, wird Brehon Rumann von Fearna mit seinem Gefolge in Kürze eintreffen, vielleicht schon morgen. Die Brehons Dathal und Fachtna sind bereits hier. Der Adel des Königreichs versammelt sich auch schon. Und unser Vetter Finguine hat Solam, den ddlaigh der Ui Fidgente, herbegleitet.« Colgü verbarg seine Besorgnis nicht. »Ich bin beunruhigt, Fidelma, das gebe ich offen zu. Weißt du inzwischen, wer hinter dem Mordanschlag steckt?«
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