Eadulf verstand nun gar nichts mehr. Er hatte erwartet, daß ein Pfeilhagel aus den Bögen niederprasseln würde, die die Britannier so gern verwendeten, oder daß sie, bewaffnet mit Schwertern und Schilden, das Schiff entern würden. Doch die Welisc entfernten sich geschwind; der Steuermann kannte sich offenbar mit den Strömungen in dieser Bucht gut aus. Ehe das Schiff ganz verschwand, nahm Eadulf jedoch noch wahr, wie wiederholt etwas vom Heck ins Wasser ge-schleudert wurde. Selbst aus dieser Entfernung ließ sich erkennnen, daß es sich um Menschen handelte. Und die Art, wie sie ins Wasser plumpsten und darauf trieben, deutete darauf hin, daß sie allesamt tot waren.
Eadulf wartete eine ganze Weile, denn er meinte, das Schiff würde sich noch einmal zeigen. Als das nicht der Fall war, beschloß er, hinunter an den Strand zu laufen.
Die Sachsen waren wieder bei der Arbeit und richteten gerade den neuen Mast auf. Er hörte Rufe von Wachposten und sah jemanden in seine Richtung weisen, als er den Strand erreichte. Zwei angeschwemmte Leichen lagen im seichten Wasser, mit dem Gesicht nach unten. Sie bewegten sich sanft mit den Wellen hin und her.
Man hatte ihn offenbar wiedererkannt, denn Osric und zwei seiner Krieger kletterten in ein Boot und ruderten auf die Küste zu.
Eadulf ging zur nächstliegenden Leiche.
Es handelte sich um einen jungen Mann in wollener brauner Mönchskutte. Er trug die Tonsur des heiligen Johannes; dieser Haarschnitt wurde von den Mönchen der Britannier als auch von denen der fünf Königreiche von Eireann bevorzugt. Der Mann war offensichtlich noch nicht lange tot. Vielleicht hatte man ihn erst umgebracht, kurz bevor man ihn über Bord warf. Die Wunde - man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten -blutete noch.
Eadulf packte die Leiche an den Schultern und zog sie aus dem seichten Wasser auf die Kieselsteine am Ufer. Vom linken Arm des Mannes hing etwas herab, ein Stück Stoff, auf das eines der Symbole eingestickt war, welches von heidnischen Angelsachsen immer noch verehrt wurde. Eadulf erkannte es auf der Stelle als ein Symbol der Hwicce.
Nun hörte er knirschende Schritte auf dem Kieselstrand und blickte hoch. Osric eilte auf ihn zu. Seine beiden Krieger bewachten das kleine Boot, jeden Moment bereit, es bei Gefahr sofort ins Wasser zu schieben und zu ihrem Schiff zu rudern.
»Hast du irgend etwas damit zu tun?« fragte Osric Eadulf wütend und deutete auf die Landspitze, hinter der das feindliche Schiff verschwunden war. Er hatte das Schwert gezogen. »Du hast behauptet, daß sich keine Krieger der Welisc in der Nähe aufhalten.«
»So ist es«, sagte Eadulf. »Mich hat das Auftauchen dieses Schiffes ebenso überrascht wie dich.« Er zeigte auf den Toten. »Hast du irgend etwas damit zu tun?«
»Du hast doch auch gesehen, wie die Welisc die Leichen von Bord geworfen haben, oder? Warum sollte ich etwas damit zu schaffen haben?« erwiderte Osric.
»Schau dir mal den Fetzen an, der um den Arm des Mannes gewickelt ist.«
Osric beugte sich vor. »Beim Blute Wotans!« fluchte er. Dann schaute er Eadulf an. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet«, antwortete Eadulf ruhig, »daß jeder, der sich die Leichen genauer ansieht, vermuten wird, daß sie von der Hand der Hwicce starben.«
Osric schwieg. Eadulf ging zu dem anderen Toten, der im flachen Wasser trieb, und zog ihn ebenfalls an Land. Auch er war ein Mönch, nicht so jung wie der erste. Tief in seinem Rücken steckte ein Dolch der Hwicce. Er ließ ein Stöhnen hören.
»Deus miseretur!« rief Eadulf und neigte sich zu ihm herunter. »Der ist noch am Leben.«
Osric trat heran und hockte sich neben Eadulf. »Nicht mehr lange, mein Freund«, murmelte er. »Ich habe solche Verletzungen schon des öfteren gesehen, die überlebt keiner. Halt!« Eadulf wollte gerade den Dolch aus dem Rücken des Mönchs ziehen. »Wenn du ihn herausziehst, stirbt er gleich. Drehe den armen Kerl ein wenig, vielleicht sagt er noch etwas.«
Eadulf lagerte den Mann vorsichtig auf die Seite.
»Kannst du mich verstehen, Bruder?« fragte er auf Kymrisch.
Die Augenlider des Mannes zuckten, und er stöhnte leise.
»Kannst du sprechen?« fragte Eadulf. »Wer hat dir das angetan?«
Der Sterbende schien etwas sagen zu wollen. Eadulf hielt das Ohr dicht an seinen Mund.
»Brich ... brich die Bronze auf ... die Bronzeschlange, die Moses schuf«, flüsterte er gequält.
Eadulf verstand nicht. »Wer hat dir das angetan?« flüsterte er noch einmal.
»Das Böse unter uns . Die Kreatur der Verdammten, die böse Spinne . wirft ihr Netz . Hat uns alle eingewickelt . Er war einer . von uns!« Dann quoll Blut aus dem Mund des Mönchs, und er verstummte.
»Er ist tot, mein Freund. Hast du etwas von ihm erfahren können?« fragte er.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hat nur phantasiert. Vielleicht hatte er Fieber.« Er richtete sich auf. »Osric, kennst du das Schiff, das euch angegriffen hat?«
»Aber ja«, erwiderte der junge Graf, »es war das Schiff von Morgan, eben jenes, daß wir von der Mündung des Flusses Saeferne die ganze Küste dieser Königreiche entlang verfolgt haben.«
»Sie hätten euch vernichten können.«
»Stimmt, das hätten sie tun können. Das könnten sie immer noch tun, wenn sie den Mut hätten, sich mit uns zu messen.«
Eadulf rieb sich nachdenklich die Wange. »Ich glaube nicht, daß es ihnen an Tapferkeit mangelt. Doch ich verstehe nicht, warum sie euch verschont haben. Und warum haben sie nur die Leichen über Bord geworfen?«
»Was sind das für Leute?«
»Mönche. Ich habe den Verdacht, daß sie der vermißten Klostergemeinschaft von Llanpadern angehören. Doch ich begreife den Sinn des Ganzen nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Ich nehme jedoch an, daß, wer immer dieses rote Drachenschiff befehligt - du sagst, Morgan heißt er? -, daß derjenige versucht, dir die Schuld am Tod all der Mönche zuzuschieben. Neben den Leichen, die man an der Küste fand, vor der ihr neulich geankert habt, lagen Waffen der Hwicce. Warum macht sich jemand die Mühe, solche falschen Fährten zu legen?«
Osric lachte grimmig. »Es ist nicht das erstemal, daß die Hwicce von den Welisc angegriffen wurden, und es ist nicht das erstemal, daß wir Christen der Welisc ermordet haben. Also kann es uns gleich sein, wem man die Schuld am Tod dieser Mönche anlastet.«
»Warum sollte man die Schuld den Angelsachsen anlasten?« fragte Eadulf nachdenklich. »Um Feindseligkeit zu schüren? Allein das Wort >Angelsachse< reicht doch hier schon aus, um Haß zu erwecken, ob bei Christen oder Heiden. Steckt vielleicht noch etwas anderes dahinter?«
»Was geht mich das an, Eadulf, der Christ. Ich be-daure nur, daß mein Schiff nicht klar war, sonst hätte ich das Drachenschiff aus Gwent vernichtet. Jetzt hat es sich wahrscheinlich irgendwo an der Küste aufwärts ein Versteck gesucht.«
Eadulf blickte zu Osrics Schiff hinüber. »Wie lange dauert es, dein Schiff wieder seetauglich zu machen?«
»Das haben wir in einer Stunde geschafft. Sobald der Mast richtig steht, werde ich die Ruder ausfahren lassen und die Küste entlang weitersegeln, falls die feindlichen Krieger wieder auftauchen und uns angreifen wollen. Die Takelage reparieren wir auf See.« Er zögerte. »Aber was ist mit dir? Du bist doch von nun an nicht mehr sicher in diesem Königreich.«
Innerlich stimmte Eadulf ihm zu, laut sagte er jedoch: »Ich muß nach Llanwnda zurück. Ehe ich in meine Heimat zurückkehren kann, habe ich hier noch ein paar Dinge zu erledigen.« Während er sprach, hatte er mit den Augen den Strand und die Klippen da-hinter abgesucht. Dabei hatte er mehrere dunkle Öffnungen entdeckt. »Diese Höhlen könnten sich als sehr nützlich erweisen«, sagte er auf einmal.
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