»Weil ich die Nachricht nicht überbringen wollte. Ich dachte, daß es falsch sei«, platzte es aus Idwal heraus.
»Warum war es falsch?« fragte Fidelma.
»Ich sage nichts mehr«, beharrte Idwal störrisch.
»Erklär mir, wie es kam, daß du über Mairs Leiche gebeugt dastandest, wenn du das Mädchen nicht umgebracht hast?« Fidelma hatte beschlossen, ihre Fragetaktik zu ändern. »Komm schon, Idwal, los, rück mit der Wahrheit heraus.«
Der Junge zuckte hilflos mit den Schultern, was schwierig war, denn seine Hände waren ja immer noch auf dem Rücken zusammengebunden. »Nach dem Streit bin ich weggegangen. Ich war mächtig aufgebracht, denn sie war meine Freundin und immer nett zu mir. Doch das, worum sie mich gebeten hatte, konnte ich nicht tun. Ich wollte eine Weile allein sein und nachdenken, ehe ich wieder zurückging und mich bei ihr entschuldigte ...«
»Wie lange warst du weg?«
»Das weiß ich nicht. Ist mir ziemlich lange vorgekommen.«
»Also bist du umgekehrt und hast sie gesucht, nicht wahr?«
»Sie lag nicht weit weg von der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte. Es sah aus, als würde sie schlafen. Das war mein erster Gedanke.« Idwal schluchzte.
»Dann ist dir aufgefallen, daß Blut an ihr klebte?« Plötzlich griff zu Fidelmas Ärger Bruder Meurig ein.
»Da war kein Blut«, erwiderte der Junge. »Deshalb habe ich ja auch angenommen, daß sie schliefe.«
Bruder Meurig rückte auf seinem Strohballen vor. »Doch der Apotheker hat Gwnda zufolge erklärt, daß das Mädchen an seinen Kleidern Blut hatte«, sagte er, eher an Fidelma gewandt als an den Jungen.
»Idwal, bist du sicher, daß an den Kleidern kein Blut war?«
Der Junge schloß die Augen, als versuchte er, sich zu erinnern. »Ich habe keins gesehen«, entgegnete er mit Entschiedenheit.
Fidelma schaute zu Bruder Meurig hinüber.
Gwnda hatte gesagt, das Mädchen sei vergewaltigt worden und noch Jungfrau gewesen. Wenn dem so war, mußte an ihren Unterkleidern Blut sein, wie man es ja auch später festgestellt hatte.
»Was hast du dann getan?« fragte Fidelma weiter und ließ die Angelegenheit für den Moment auf sich beruhen.
»Ich kniete neben ihr nieder und fragte mich, wie ich ihr helfen könnte. Dann wurde mir klar, daß sie tot war. Ich stand auf. Ich spürte . « Er verstummte, er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. »Da hörte ich die wütenden Schreie. Leute liefen auf mich zu. Ich hatte furchtbare Angst und versuchte wegzurennen.«
»Und dann?«
»Ich weiß noch, daß mich ein Schlag traf. Ich sank zu Boden, und Gwnda stand mit einer Keule über mir. Nun waren die anderen auch schon da und fingen an, mich zu treten und zu schlagen. Ich glaube, ich war lange Zeit bewußtlos. Ich kann mich an nichts weiter erinnern, als daß ich später hier aufgewacht bin und gefesselt war.«
»Du kannst dich an nichts anderes erinnern?«
»Ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier so eingesperrt war. Ich denke, daß es mehr als ein Tag und eine Nacht gewesen sein muß. Buddog kam und brachte mir Wasser. Sie sagte, daß ich ihr leid tue. Ich habe lange nichts mehr gegessen. Dann kam Iestyn mit zwei anderen, und sie schleppten mich fort. Sie zogen mich zu dem Baum auf dem Platz . Und dann seid ihr aufgetaucht.«
Schweigend lehnte sich Fidelma zurück und blickte den Jungen an. Schließlich drehte sie sich zu Bruder Meurig um. Der Richter zuckte die Schultern und deutete mit dem Kopf zur Tür.
»Idwal, du mußt uns die Wahrheit sagen. Schwörst du, daß du uns die ganze Wahrheit gesagt hast?« redete Fidelma wieder auf ihn ein.
Idwal schlug die Augen zu ihr auf. »Ich schwöre es beim lebendigen Gott, Schwester. Ich habe sie nicht umgebracht ... Mair war meine Freundin. Meine enge Freundin.«
»Und du sagst uns immer noch nicht, welche Botschaft du für sie überbringen solltest?«
»Ich habe es ihr geschworen. Ich werde das Geheimnis hüten. Ich kann meinen Schwur nicht brechen.«
Fidelma klopfte ihm auf die Schulter, erhob sich und folgte Bruder Meurig und Eadulf zur Tür.
»Klingt aufrichtig, was der Junge sagt«, bemerkte Bruder Meurig zögernd mit gedämpfter Stimme. »Andererseits, was er erzählt, wirft jede Menge Fragen auf.«
»Ja, er hat uns wohl die Wahrheit gesagt«, erwiderte Fidelma.
»Aber du hast wie ich das Gefühl, daß es nicht die ganze Wahrheit ist?«
»Wenn wir wüßten, was für eine Botschaft es war, die er überbringen sollte und die ihn bewog, deswegen mit dem Mädchen einen Streit vom Zaune zu brechen.«
»Vielleicht hat er in diesem Punkt gelogen?« gab Eadulf zu bedenken.
»Warum? Es ist offensichtlich, daß der Junge für sein Alter noch recht unreif ist. Ich bezweifle, daß sich ein derartig simpler Bursche so eine Geschichte ausdenkt«, entgegnete Fidelma.
»Und dennoch ist es seltsam. Was für eine Nachricht könnte für Mair so wichtig gewesen sein, daß sie Idwal schwören ließ, sie nicht zu verraten?«
Einen Moment lang schwiegen alle, dann sagte Eadulf: »Das verwirrendste daran ist Idwals Behauptung, an den Kleidern des Mädchens sei kein Blut gewesen. Laut Gwnda und dem Apotheker hat man aber gerade an Hand dessen den Schluß gezogen, Mair sei vergewaltigt worden.«
»Dazu werden wir den Apotheker persönlich befragen müssen. Wie war noch sein Name? Elisse?« erwiderte Fidelma.
»Fest steht, daß Idwal behauptet, er sei nicht der Liebhaber des Mädchens gewesen. Ja, er hat nicht einmal gesagt, daß er es gern gewesen wäre«, warf Bruder Meurig ein. »Nach der Aussage des Apothekers ist Mair jedoch vergewaltigt worden. Das Blut an ihren Unterkleidern würde das belegen.«
»Ich würde der Sache mit der geheimen Botschaft nachgehen«, schlug Eadulf vor. »Oftmals verständigen sich Liebende auf solche Art. Hatte Mair wirklich einen Liebhaber? Wollte Idwal aus diesem Grund die Nachricht nicht überbringen?«
Einen Augenblick lang starrte Fidelma Eadulf über-rascht an, dann lächelte sie. »Manchmal, Eadulf, hast du die Fähigkeit, das Offensichtliche zu erkennen, während wir daran vorbeisehen.«
»Wenn die Nachricht für ihren Liebhaber war«, stellte Bruder Meurig fest, »dann muß Idwal, der ja zugegeben hat, daß er Mair liebt, auch wenn es scheint, daß es dabei nicht um eine sexuelle Beziehung ging, dann muß ihn die Eifersucht zur Gewalt getrieben haben. Wollen wir doch mal hören, was er dazu sagt.«
Fidelma lief zurück in den Stall. »Idwal, es gibt noch eine Frage. Die Botschaft betreffend ...«
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich nichts darüber verraten werde«, entgegnete der Junge entschlossen.
Fidelmas Stimme klang ruhig, aber sicher. »Nun gut. Ich nehme an, daß du auf die Bitte nicht eingegangen bist, weil du etwas gegen Mairs Liebhaber hattest? Ist es so?«
Idwals Gesichtsausdruck verriet ihr, was sie wissen wollte.
»Siehst du, Idwal«, fuhr Fidelma freundlich fort, »die Wahrheit kommt immer von allein ans Tageslicht. Wer war dieser Mann?«
Der Junge machte eine abwehrende Geste. »Ich habe einen Eid geschworen.«
»Deine Zukunft kann davon abhängen, ob du mir den Namen des Mannes nennst oder nicht.«
»Ich habe einen Eid geschworen.«
Fidelma hatte viel Übung darin, den Charakter eines Menschen einzuschätzen, und erkannte, daß Idwal dabei bleiben würde. »Nun gut, dann lassen wir das, Idwal.«
Kopfschüttelnd kehrte sie zu Bruder Meurig und Eadulf zurück. »Eadulf hatte recht. Der Junge beharrt zwar darauf, uns nicht zu verraten, für wen die Nachricht war, aber sein Gesicht verriet mir die Wahrheit, als ich ihm auf den Kopf zusagte, daß sie wohl für Mairs Liebhaber bestimmt war. Seinen Namen konnte ich jedoch nicht in Erfahrung bringen.«
»Eins übersehen wir«, stellte Bruder Meurig klar. »Wir reden hier nur von platonischer Liebe, nicht von körperlicher. Die Indizien belegen, daß Mair noch Jungfrau war. Damit hätte der Junge immer noch ein Mordmotiv. Rache, weil das Mädchen ihn um des anderen willen ablehnte.«
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