Als ich hörte, daß Iorwerth, Iestyn und die anderen sich ihm näherten, ging ich in seine Richtung. Idwal hatte sie ebenfalls wahrgenommen und wollte losrennen. Zufällig lief er genau dorthin, wo ich mich hinter einem Baum versteckt hielt. Als er auf meiner Höhe war, streckte ich ihn mit meiner Keule zu Boden. Dann waren auch schon Iorwerth und seine Gefährten da. Als sie sahen, was Idwal getan hatte, wollten sie ihn auf der Stelle totschlagen. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten und ihnen erklären, daß man auf einen Richter warten müßte.«
»Da möchte ich einiges doch noch genauer wissen«, sagte Bruder Meurig langsam. »Hast du den Jungen dabei beobachtet, wie er ...«
Fidelma räusperte sich und wollte schon eingreifen, als Gwnda ihr zuvorkam. »Ich habe den Jungen über die Leiche gebeugt stehen sehen. Das ist alles. Aber um zu wissen, was da vor sich gegangen war, braucht man nur eins und eins zusammenzuzählen.«
»In meinem Land sind die Regeln hinsichtlich der Beweislage sehr streng. Du kannst nicht etwas beeiden, was du nicht gesehen hast«, warf Fidelma ein.
»Hier gelten die gleichen Gesetze, Schwester«, pflichtete ihr Bruder Meurig bei. »Die Meinungen und Auslegungen von Zeugen können nicht als Beweismittel dienen. Das weiß Gwnda nur zu gut. Ein Richter wird hier seine eigenen Schlüsse ziehen. Wie ist das Mädchen umgebracht worden?«
»Erwürgt, nachdem sie vergewaltigt wurde. An ihrem Hals waren Druckstellen. Die Leiche ist von unserem Apotheker Elisse untersucht worden. Er sagt, daß auf ihre Kehle starker Druck ausgeübt wurde und das Mädchen keine Luft mehr bekam, bis sie starb.«
»Woran hat der Apotheker feststellen können, daß das Mädchen vor ihrer Ermordung vergewaltigt wurde?« wollte Fidelma wissen.
»An Mairs Unterkleidern war sehr viel Blut, wenn ihr versteht ...«, antwortete Gwnda verlegen.
»War der Körper des Mädchens noch warm, als du dazukamst?« fragte Eadulf, der sich bemühte, in fremder Zunge seine Frage verständlich zu formulieren.
Gwnda starrte ihn an, als sei er ein Trottel.
»Bruder Eadulf will wissen, ob du selbst die Leiche untersucht hast?« vermittelte Bruder Meurig.
»Natürlich habe ich sie nicht angerührt. Ich habe gesehen, daß das Mädchen tot war. Das war auch ohne nähere Untersuchung offensichtlich.«
»Doch du kannst nicht sagen, wie lange Mair schon tot war, als du am Tatort eingetroffen bist?« fragte Fidelma, die verstanden hatte, worauf Eadulf hinauswollte.
»Der Junge stand immer noch über sie gebeugt da. Es war klar, daß der Mord soeben erst geschehen war.«
»Für uns ist das nicht so klar.« Fidelma seufzte. »Den eigentlichen Mord hast du nicht gesehen, und man kann das, was du beobachtet hast, auf vielerlei Art interpretieren. Hat Idwal denn den Mord gestanden?«
»Natürlich nicht.«
»Wieso natürlich?«
»Ich kenne niemanden, der freiwillig einen Mord gestehen würde.«
»Also hat er abgestritten, sie umgebracht zu haben?« fragte Bruder Meurig. »Hat er gestanden, sie vergewaltigt zu haben?«
»Das hat Idwal auch abgestritten.«
»Er hat also verneint, für Mairs Tod verantwortlich zu sein«, stellte Fidelma nachdrücklich fest.
Gwnda nickte verdrossen.
»Hat er denn versucht, den Vorfall zu erklären?« wollte Eadulf wissen. »Was ist seiner Meinung nach geschehen?«
Gwnda schaute ihn entgeistert an.
»Hat man ihn je darum gebeten, den Vorfall aus seiner Sicht zu schildern?« erkundigte sich Bruder Meurig besorgt.
»Nein«, gab Gwnda zu. »Ich bin kein Richter.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann bemerkte Fidelma: »Schade, daß du die Leiche nicht angefaßt hast, um festzustellen, wie lange Mair schon tot war. Das hätte für uns sehr aufschlußreich sein können.«
Gwnda lachte finster. »Einzig die Schuld des Jungen.«
»Das wäre aber zumindest etwas gewesen, an dem man sich orientieren könnte, nicht wahr?« erwiderte Fidelma kühl.
Bruder Meurig rieb sich das Kinn. »Jeder hier scheint den Jungen als Mörder zu verurteilen, ohne ihn nach seiner Sicht des Vorfalls befragt zu haben. Warum soll er das Mädchen denn getötet haben?«
»Das ist leicht zu beantworten«, entgegnete Gwnda. »Das Mädchen hat ihn zurückgewiesen. In einem Rausch ungezügelter Leidenschaft hat er sie vergewaltigt, und dann, als ihm seine Tat bewußt wurde, hat er sie getötet. Ich hätte gedacht, euch wäre das klar.«
Diese Antwort hatte Fidelma erwartet. »Können wir denn gewiß sein, daß Mair als pflichtbewußte Tochter, wie du uns ja versichert hast, Idwals Annäherungsversuche abwies, vorausgesetzt, er hat überhaupt welche unternommen?«
Gwnda blickte sie geringschätzig an. »In meinem Volk wirst du nicht willkommen sein, wenn du denjenigen etwas unterstellst, die sich nicht mehr verteidigen können.«
Fidelmas Miene blieb ungerührt. »Es tut mir leid, wenn du meinst, daß ich das tue, Gwnda von Pen Caer. Ich habe meine Worte nicht leichtfertig gewählt, und ich denke, daß Bruder Meurig seine Nachforschungen anstellt, um die Wahrheit zu ermitteln. Um der Wahrheit willen müssen Fragen gestellt und Antworten gegeben werden.«
Bruder Meurig erhob sich. »Da stimme ich Schwester Fidelma zu. Es sieht so aus, als seien wir genau zum rechten Zeitpunkt hier eingetroffen. Aber es ist inzwischen schon spät, und wir müssen noch ein Nachtlager finden.«
»Natürlich seid ihr in meinem Hause herzlich willkommen«, sagte Gwnda. Er versucht höflich zu erscheinen, hatte er doch bemerkt, daß Meurig Fidelmas Position bezog.
»Wir nehmen deine Gastfreundschaft gern an«, erwiderte Bruder Meurig im Namen aller.
»Sollte es euch an etwas fehlen, so teilt es Buddog mit. Ich habe keine Frau mehr, und meine Tochter ist noch zu jung, um den Ansprüchen der Führung dieses Haushalts nachzukommen. Ich habe vor, Iorwerth wegen der Schande zur Rechenschaft zu ziehen, die er heute abend über Pen Caer gebracht hat.«
»Ehe wir uns zur Nachtruhe begeben, würden wir gern noch mit Idwal reden«, sagte Fidelma rasch.
»Buddog wird euch zu dem Stall bringen, in dem man ihn gefangenhält. Draußen ist es schon stockdunkel.«
Buddog wartete mit einer Laterne an der Tür. Sie hielt das Licht in ihren starken, zupackenden Händen, als sie die drei über den Hof zu den dunklen Ställen führte. Fidelma kam der flüchtige Gedanke, daß die Hände nicht so recht zu der hübschen Frau paßten, denn sie waren von der vielen Arbeit grob und schwielig. Buddog wirkte weder zugänglich, noch war sie sonderlich freundlich zu ihnen. Sie redete nur, wenn man sie ansprach, und dann tat sie das eher einsilbig.
»Führst du schon lange diesen Haushalt, Buddog?« fragte Fidelma freundlich, als sie den Hof überquerten.
»Nein.«
»Erst seit ein paar Wochen?« Fidelmas Stimme klang ein wenig belustigt. Ungenaue Antworten waren ihr zuwider.
Die Haushälterin preßte die Lippen fester aufeinander.
»Ich bin seit zwanzig Jahren in diesem Hause.«
»Das ist eine lange Zeit. Also hast du schon als junges Mädchen hier gearbeitet?«
»Man hat mich als Geisel hergebracht«, erwiderte Buddog. »Ich stamme aus Ceredigion.«
Nun hatten sie die Stalltür erreicht. Buddog war stehengeblieben, ihre Hand lag auf dem Schnappriegel.
»Du wirst die Laterne brauchen, Bruder«, sagte sie zu Meurig. »Ich kenne den Weg im Dunkeln über den Hof, ich finde schon zurück.«
Bruder Meurig nahm ihr die Laterne ab.
Sie zögerte und sagte dann leise, aber recht aufgewühlt, zu dem Richter: »Wenn der Junge Mair umgebracht hat, so hat sie den Tod auch verdient!«
Daraufhin wandte sie sich um und verschwand als Schatten in der Nacht.
Vor Überraschung schwiegen alle, dann sagte Fidelma: »Ich glaube, Bruder, daß du Buddog bitten mußt, dir das näher zu erläutern.«
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