Eine Weile später verließen Fidelma und Eadulf auf ihren robusten kleinen Ponys die Lichtung und die religiöse Gemeinschaft von Tunstall und ritten nach Osten durch den Wald. Der schloß sie sofort so dicht ein, als hätte sich ein dunkler Schleier um sie gelegt. Die Pferde konnten auf dem engen Pfad nur hintereinander gehen, deshalb hatte Fidelma aus dem einfachen Grunde Eadulf die Führung überlassen, weil er die Gegend kannte.
»Ich nehme an, wir wollen zu Aldheres Lager?« rief Eadulf über die Schulter zurück, sobald sie die Gemeinschaft verlassen hatten.
»Das ist das Ziel«, antwortete Fidelma.
»Dann reiten wir nach Osten durch diesen Wald. Die Küste ist nur vier oder fünf Meilen entfernt, aber vorher kommen wir noch an eine kleine Siedlung an einem Bach. Früher nannte man ihn den Südbach. Dahinter gibt es einen bequemen Weg nach Norden, über eine Furt durch den Bach und um die Abtei herum, der wir uns nicht zu nähern brauchen.«
»Die Wahl des Weges überlasse ich dir, Eadulf. Es ist dein Land«, erwiderte sie ernst.
Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Es war noch ziemlich kalt, und Fidelma war froh, daß sie sich einen weiteren Mantel von Bruder Laisre geborgt hatte. Sie spürte, daß sie sich zwar erholt hatte, aber noch geschwächt war.
Sie ließ ihrem Pony die Zügel locker, saß entspannt im Sattel und versenkte sich in das dercad, eine Meditationsübung, die ruhevoller und weniger anstrengend war als das Nachdenken über die Probleme, vor denen sie standen. Es war beinahe ein Schlummern, ein sanftes Einschlafen, bis ...
Sie fing sich gerade noch ab, sonst wäre sie von ihrem Pony gefallen. Es schnaubte unwillig, als sie sich an seiner Mähne festhielt.
Eadulf blickte sich um.
»Ist dir was?« fragte er besorgt.
»Nein!« fauchte sie zornig zurück. Mit diesem Ausbruch wollte sie nur ihren Ärger über sich selbst verbergen. Sie war eingeschlafen. Dazu sollte die Meditation nicht führen, sie sollte den Geist erfrischen und nicht in den Schlaf lullen, in dem Träume das seelische Gleichgewicht ebenso stören konnten. Das war ihr vorher noch nie passiert. Vielleicht war es ein Anzeichen dafür, wie sehr die Krankheit sie geschwächt hatte. Sie bereute ihre Reaktion auf Eadulfs Besorgnis.
»Es tut mir leid«, rief sie ihm zu.
Eadulf wandte sich im Sattel halb um.
»Was denn?« fragte er harmlos. Er kannte sie zu gut, um ihr den Ärger übelzunehmen.
Sie zögerte einen Moment und sagte dann: »Ich wollte dich nicht anschreien.«
Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder nach vorn. Vor ihnen hörte man Wasser rauschen, das über Felsen schoß.
»Ist das der Südbach, von dem du gesprochen hast?« fragte sie.
»Ja, und bald kommen wir an eine Lichtung, auf der sich ein paar Häuser zusammendrängen. Wenn ich mich recht erinnere, liegt dort ein Bauernhof. Wollen wir den umgehen? Willst du ihn vermeiden?«
»Könnten wir dort etwas Heißes zu trinken bekommen, ohne daß wir in Schwierigkeiten geraten?« fragte sie.
Sie hatte Durst, und die Kälte des Wintermorgens drang durch die Kleidung. Sie wollte nicht wieder krank werden. Kaltes Wasser würde da nicht genügen.
»Ich bin sicher, der Bauer wird uns gastfreundlich aufnehmen«, erwiderte Eadulf.
»Dann reiten wir hin.«
Eadulf ritt weiter voran durch den Wald in die Richtung des rauschenden Wassers. Nach kurzer Zeit erreichten sie das Ufer eines mittelgroßen Baches, der schäumend über Steine und Kiesel strömte, und erblickten dahinter Streifen welligen, bebauten Ackerlandes. Von der Anhöhe, auf der sie hielten, konnte man in der Ferne sogar die See erspähen.
In einem Einschnitt in den Hügeln nicht weit von ihnen stieg leichter Rauch auf, und bald kamen auch Dächer von Gebäuden in Sicht.
»Das ist der Bauernhof«, rief ihr Eadulf zu.
Plötzlich drang Geschrei zu ihnen herüber, und sie sahen Leute durcheinander laufen.
»Was ist denn das?« wollte Fidelma wissen.
Eadulf verzog das Gesicht.
»Sie haben uns gesehen, das ist alles«, erwiderte er. »Wir sind in der Nähe der Küste, und wenn es hier tatsächlich ab und zu Überfälle von den Ost-Sachsen gibt, dann haben die Leute schon recht, wenn sie anrückenden Fremden mißtrauen.«
Ein untersetzter Mann kam ihnen auf dem Weg entgegen.
»Haltet an, Fremde, und sagt, wer ihr seid!« rief er mit rauher Stimme und blieb breitbeinig stehen, die Hände an den Hüften und in einer Hand einen langstieligen Hammer.
»Friede, mein Freund«, rief Eadulf und zügelte sein Pony. »Ich bin Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham und reise mit meiner Gefährtin. Wir bringen euch den Segen Christi an diesem heiligen Tag.«
Fidelma fiel auf, daß Eadulf sie nicht vorstellte. Es war wohl besser, nicht zu verraten, daß sie Ausländerin war.
Der Mann schien etwas freundlicher zu werden.
»Von Seaxmund’s Ham, sagst du?«
»Ja.«
»Wo wollt ihr jetzt hin?«
»Wir bitten nur um einen heißen Trunk an diesem Wintertag, dann wollen wir weiter nach Norden.«
Der stämmige Mann blickte von Eadulf zu Fidelma und zurück.
»Dann erwidern wir euren Segen am Festtag unseres Heilands. Verzeih unsere Vorsicht, Bruder Eadulf, doch wie du weißt, leben wir in unsicheren Zeiten.«
»Du meinst die Überfälle von Sigehere?«
»Ja, die meine ich. Es gibt ständig Gerüchte, daß seine Kriegertrupps an der Küste landen. Aber kommt herein. Genießt unsere Gastfreundschaft und seid willkommen.«
Der Mann wandte sich um und winkte den Leuten zu, die sich in einiger Entfernung gesammelt hatten, und auf dieses Signal hin zerstreuten sie sich. Er führte sie zu dem Bauernhaus.
»Frau«, rief er der großen, schlichten Bäuerin zu, die in der Tür stand, »ein Mönch und eine Nonne auf dem Rückweg nach Seaxmund’s Ham. Ein Becher heißer Met erfrischt sie und hilft ihnen weiter.«
»Das tut er sicher«, meinte Eadulf und stieg ab. »Meine Gefährtin hat die Stimme verloren, und der Met wird ihrer Kehle wohltun.«
Fidelma begriff, daß er das gesagt hatte, damit sie sich nicht mit ihrem Akzent als Ausländerin verriet und Verdacht erweckte. Sie lächelte nur und nickte der Bauersfrau zu, die besorgt wie eine Henne herbeieilte und ihr beim Absteigen half.
»Ach, die arme Frau. Wir werden gleich sehen, was wir tun können. Eine schlimme Kehle? Armes Kind.
Tretet ins Haus, und ich mache euch gleich einen Becher Met heiß. Es bringt Glück, wenn gerade an diesem Feiertag ein Mönch und eine Nonne in unser Haus kommen.«
Fidelma brummte und nickte und folgte der Frau gehorsam in die Küche.
Der Bauer führte Eadulf hinein.
»Seid ihr jetzt direkt auf dem Wege nach Seaxmund’s Ham, Bruder?« erkundigte er sich.
Eadulf nickte.
»Warum fragst du?« sagte er und sah zu, wie die Bauersfrau Met in zwei Becher goß, einen rotglühenden Schürhaken vom Feuer nahm und ihn erst in den einen, dann in den anderen Becher hielt, bis der Met zischte und aufwallte.
»Hast du den Himmel im Westen gesehen, Bruder?«
Eadulf hätte zugeben können, daß er auf dem Ritt durch den Wald in jeder Richtung nur sehr wenig vom Himmel gesehen hatte, begnügte sich aber mit einer einfachen Verneinung.
»Dort ballen sich schwere graue Wolken zusammen. Ich fürchte, wir kriegen in den nächsten paar Stunden eine neue dicke Schneedecke, jedenfalls noch vor der Nacht.«
»Bis dahin sollten wir es bis über den Fluß Alde schaffen.«
»Ja, wenn ihr euch nicht zu lange aufhaltet.«
Eadulf hob den Becher und nahm einen langen Zug.
»Sobald wir diesen köstlichen Nektar genossen und dies Haus gesegnet haben, werden wir uns auf den Weg machen.«
Der Bauer schmunzelte anerkennend.
»Gott gebe euch einen guten Weg, Bruder. Möge Er euch vor den Geächteten schützen, die im Moorland leben, und vor Sigeheres Kriegern.«
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