»Aber niemanden von deinem Ruf, Cousine«, erwiderte Becc sofort.
»Was erwartet ihr von mir?«
Becc schwieg kurz, dann räusperte er sich nervös.
»Erwarten? Wir erwarten nichts, Fidelma von Cashel. Doch ich würde dich gern um etwas bitten. Könntest du nach Rath Raithlen kommen, natürlich in Begleitung von Bruder Eadulf, und Licht in das Dunkel bringen?«
Eadulf sah Fidelma an. Von Anfang an hatte er geahnt, wohin sich die Unterhaltung bewegen würde. Jetzt entdeckte er einen Funken Erregung in ihren Augen. Fidelmas Gesichtszüge verrieten, daß sie Feuer gefangen hatte. Er wußte, er könnte dem Anreiz nichts entgegensetzen, den dieser Fall ihrem Verstand bot. Seit sie aus dem Land des Südvolks zurückgekehrt waren, selbst in der Zeit der Schwangerschaft und nach der Geburt Alchüs, war Eadulf aufgefallen, daß sie nicht recht glücklich war. Fidelma gehörte nicht zu den Frauen, die völlig in Ehe und Mutterschaft aufgingen. Insgeheim hegte er den Verdacht, mehr mütterliche Gefühle zu besitzen als sie.
Schon seit längerem war Eadulf klargeworden, daß sie sich nach jener Beschäftigung sehnte, die sie stets so sehr gefesselt hatte - der Auffindung der Wahrheit bei Rechtsbrüchen unter Anwendung des Gesetzes. Das belebte sie und stachelte ihre Sinne an. In den letzten Monaten hatte er bemerkt, daß sie sich langweilte. Sie langweilte das Leben auf dem Schloß mit all der Fürsorge um Alchü. Ihr fehlten die Herausforderungen. Wenn er so etwas dachte, hatte er manchmal Schuldgefühle, denn sie war ja beileibe keine schlechte Mutter, die gleichgültig gegenüber ihrem Kind war.
Fidelma liebte Alchü über alles. Er kannte sie nur zu gut und verurteilte sie nicht, weil sie ihr Wesen nicht verleugnete. Er räusperte sich.
»Wir müssen auch an Alchü denken«, sagte er leise.
Fidelma preßte verärgert die Lippen zusammen.
»Sarah ist ein gutes Kindermädchen«, warf Colgü ein, ehe sie antworten konnte. »Ihr seid höchstens eine Woche unterwegs, maximal zehn Tage. Sie würde sich bis zu eurer Rückkehr nur um euer Kind kümmern. Auf Schloß Cashel sind Kinder doch immer wohlbehütet aufgewachsen.«
»Du bist unsere einzige Hoffnung«, fügte Becc flehend hinzu. »Das meine ich ernst und aufrichtig.«
Fidelma schaute Eadulf ein wenig traurig an, so als hätte sie begriffen, daß er sich darüber im klaren war, welch große Herausforderung Beccs Ansinnen für sie bedeutete. Sie mußte sich der Herausforderung stellen; er konnte ihr das nicht verwehren, nicht einmal Alchü könnte diesen Teil ihres Lebens verdrängen. Sie war für ihren Beruf geboren, man hatte sie dafür ausgebildet, sie brauchte ihn so sehr wie die Luft zum Atmen, die Nacht zum Schlafen und das Licht am Tage.
Sie wandte sich wieder an Becc. »Diese drei Fremden, die du erwähntest . Was meintest du damit? Sind sie Fremde für die Cinel na Äeda oder unser Königreich von Muman oder gar die fünf Königreiche von Eireann?«
»Die Fremden sind über die Meere gekommen, aus einem fernen Land, von dem ich nie zuvor gehört habe.«
»Also geht es auch um die Ehre des Königreiches und nicht nur um die der Cinel na Äeda, wenn die Fremden unrechtmäßig beschuldigt und bedroht werden.«
Eadulf seufzte leise.
Colgü nickte zustimmend.
»Diesen Gesichtspunkt gilt es zu berücksichtigen«, pflichtete er ihr bei. »Der Fall muß dringend auf ge -klärt werden, ehe es noch zu weiteren Übergriffen auf die Abtei des heiligen Finnbarr kommt.«
»Oder noch mehr junge Mädchen dran glauben müssen«, fügte Fidelma ernst hinzu. Wieder schaute sie zu Eadulf hinüber. »Also muß ich hin. Mir bleibt keine andere Wahl. Kommst du mit mir, Eadulf? Ich werde deine Hilfe brauchen. Sarait wird sich um Alchü kümmern.«
Eadulf zögerte nur einen Moment, dann fügte er sich seinem Schicksal.
»Natürlich«, antwortete er mürrisch. »Wie dein Bruder schon sagte, Sarait ist ein gutes Kindermädchen. Sie wird für das Baby sorgen, wenn wir fort sind.«
Fidelma sah ihn mit einem zufriedenen Lächeln an. »So werden wir morgen in aller Frühe nach Rath Raithlen aufbrechen.«
Colgü läutete wieder mit der silbernen Handglocke. »Ehe wir unsere Unterhaltung beenden, muß ich noch eine Sache klären.«
Diesmal trat Colgüs geistlicher Berater ein. Segdae war Bischof von Imleach und comarb, also offizieller Nachfolger des heiligen Ailbe, der den christlichen Glauben nach Muman gebracht hatte. Der nicht mehr junge Mann mit dem vogelartigen Gesicht, dessen dunklen Augen nichts entging, hielt ein längliches Kästchen in den Händen.
Colgü erhob sich, und entsprechend dem Zeremoniell standen nun alle auf. Segdaes strenge Gesichtszüge erhellten sich für einen Augenblick, als er die Anwesenden begrüßte und dann Colgü das Kästchen überreichte. Jetzt schritt der König auf Fidelma zu.
»So wie dieser Fall liegt, Fidelma, geht es auch um die Ehre unseres Königreiches. Die Fremden genießen unsere Gastfreundschaft; und wenn sie zu Unrecht beschuldigt oder gar bedroht werden, so befleckt das unsere Ehre. Falls sie aber unsere Gastfreundschaft mißbrauchten und die Morde begangen haben sollten, ist es an uns, dafür zu sorgen, daß sie dafür geradestehen.« Er öffnete das Kästchen. »Du hast schon einmal in meinem Auftrag gehandelt, Fidelma, und das sollst du nun wieder tun.«
Er entnahm dem Kästchen einen weißen Ebereschenstab, auf dem ein kleiner goldener Hirsch mit Geweih befestigt war, das Symbol der Prinzen der Eoghanacht von Cashel. Mit angemessener Würde überreichte der König den Stab Fidelma.
»Das ist das Zeichen meiner persönlichen Macht, Schwester. Du hast es bereits in der Vergangenheit zum Guten zu nutzen gewußt, und du wirst ihm auch in Zukunft gerecht werden.«
Fidelma ergriff den Stab und verneigte sich kurz.
Anschließend umarmten sich Bruder und Schwester, wie es bei Hofe üblich war.
Für einen Moment herrschte feierlicher Ernst zwischen ihnen, dann traten beide zurück und lächelten, als wären sie Kinder, die ein Geheimnis teilten. Nun wandte sich Colgü wieder den Anwesenden zu.
»Begeben wir uns in die Festhalle, sonst fragen sich unsere Gäste noch, warum wir sie so lange warten lassen.«
Am nächsten Vormittag verließen Fidelma, Eadulf und Becc Cashel, allerdings nicht bei Morgengrauen, wie Fidelma es vorgeschlagen hatte. Die Sonne stand fast schon im Zenit, als sie sich auf den Weg machten. Das Fest mit Musik und Tanz hatte bis tief in die Nacht angedauert. Barden, die sich auf Saiteninstrumenten begleiteten, hatten Preislieder auf die Vorfahren von Colgü angestimmt. Solche Preislieder nannte man forsundud, wie Fidelma Eadulf erklärte. Sie stellten die älteste Dichtkunst ihres Volkes dar und priesen die edlen Taten der einzelnen Könige von Cashel. Ihr Vortrag wurde von einer ausgelassenen Musik begleitet, die in Eadulfs Ohren eher fremd und wild klang. Der Wein war reichlich geflossen. Als die drei zum Land der Cinel na Äeda aufbrachen, lag das Schloß von Cashel noch ganz verschlafen da. Und auch Eadulf und Becc schienen müde zu sein und waren sehr schweigsam. Fidelma ahnte, daß wohl ihr ausgiebiger Alkoholgenuß daran schuld war, und hatte kein Mitleid mit ihnen.
Nach einem gemächlichen Dreitageritt erreichten sie kurz nach Einbruch der Dunkelheit die Festung der Cinel na Äeda namens Rath Raithlen. Im Hof wurden sie von Accobran, dem Tanist, empfangen. Der junge Mann war hochgewachsen und muskulös, seine dunklen Haare trug er der Mode nach schulterlang, sein Gesicht war glattrasiert. Er wirkte freundlich, doch um seinen Mund zeigten sich harte Züge, eine kaum wahrnehmbare Grausamkeit ging von ihm aus. Er hatte dunkle Augen, und Fidelma mißtraute sofort seinem allzu schnellen Lächeln.
»War alles ruhig, während ich in Cashel war?« war Beccs erste Frage, als er vom Pferd stieg.
Читать дальше