Becc nickte traurig. »Escrach, die jüngste Tochter von Seachlann, war ein nettes junges Mädchen.«
»Ihr Tod hat Seachlann schwer getroffen«, fügte Accobran hinzu. »Brocc, der die Leute gegen die Klostergemeinschaft aufgebracht hat, ist sein Bruder.«
»Derjenige, der behauptet, die Fremden seien die Mörder?« Fidelma wollte es genau wissen.
»So ist es.«
»Sieht Seachlann die Sache genauso wie sein Bruder?«
»Ja.«
»Dann müssen wir beide befragen und herausfinden, warum sie die Mönche beschuldigen. Welches Handwerk übt Seachlann aus?«
»Er ist der Müller. Seine Mühle befindet sich auf dem Hügel genau südlich von hier.«
»Was ist mit dem dritten Mädchen, dieser Ballgel?«
»Wir kannten sie gut. Sie half in meiner Küche ihrem Onkel Sirin. Er ist hier der Koch«, sagte Becc.
»Wohnte sie auch hier?«
Accobran antwortete mit einem Kopfschütteln. »Nein. Sie lebte bei Berrach, einer älteren Tante ...«
»Ist das Sirins Frau?« fragte Eadulf.
»Sirin ist nicht verheiratet. Nein, Berrach ist Sirins Schwester, sie war aber auch die Schwester von Ballgels Mutter. Ballgels Eltern sind beide tot. Berrach hat sich um sie gekümmert. Sie besitzt eine kleine Hütte, eine halbe Stunde von hier entfernt. Mein Verwalter Adag hat sicher einen Fehler gemacht, das Mädchen nach Mitternacht allein nach Hause gehen zu lassen, wo es doch schon zwei Morde gegeben hat.«
Nachdenklich blickte Fidelma zu Accobran hinüber.
»Eine logische Schlußfolgerung«, erwiderte sie, ehe sie sich wieder an Becc wandte. »Warum ließ man sie allein gehen? Warum war sie überhaupt in jener Nacht noch so spät hier?«
»Ich hatte an jenem Abend Gäste. Sirin und Ballgel wurden hier gebraucht. Das war nicht ungewöhnlich, und zuvor ist auch nie etwas passiert. Ich habe mich um meine Gäste gekümmert und wußte nicht, wann genau das Mädchen weggegangen ist . « Er schwieg, fügte dann aber, sich ein wenig verteidigend, hinzu: »Ich bin der Fürst der Cinel na Äeda.«
Fidelma lächelte ruhig. »Becc, ich wollte damit nicht sagen, daß du persönlich für den Arbeitsablauf der in deinem Dienst Stehenden zuständig bist. Du könntest aber nach deinem Verwalter schicken, der darüber Bescheid wissen müßte.« Sie hielt inne. »Hält sich der Koch Sirin gerade in der Festung auf?«
Accobran nickte.
»So laß ihn rufen.«
Accobran erhob sich, um ihrer Bitte Folge zu leisten.
»Ich schätze, alle deine Gäste übernachteten hier, und ihr habt bis tief in die Nacht hinein gezecht?« fragte Fidelma nun Becc.
»Bis der Morgen graute. Nur Abt Brogan machte sich früher zur Abtei auf; er ging als erster.«
»Wann ging er weg? Noch vor Ballgel?«
»Das weiß ich nicht. Da mußt du meinen Verwalter fragen. Erst am nächsten Morgen teilte mir Adag mit, daß Ballgel kurz nach Mitternacht aufgebrochen war. Wann aber der Abt gegangen ist, weiß ich nicht. Vielleicht kann es dir Adag sagen.«
»Von dem Abt mal abgesehen, wer waren die anderen Gäste?«
»Fürsten benachbarter Stammesgebiete. Drei an der Zahl. Sie schliefen fest und wurden nicht gestört, selbst als Adag mich am nächsten Morgen früh aufweckte. Zu dem Zeitpunkt zogen die Leute, nachdem sie auf Ballgels Leiche gestoßen waren, vor die Abtei.«
Fidelma runzelte die Stirn. »Mir ist aufgefallen, daß Accobran jünger und stärker ist als du, Becc. Warum hat er sich nicht mit den Unruhestiftern auseinandergesetzt?«
»Er war nicht hier«, erklärte Becc.
»Ach? Er hat an dem Abendessen nicht teilgenommen?«
»Er hielt sich in jener Nacht nicht in der Festung auf.«
Da betrat Accobran wieder die Halle und kündigte an, daß Adag und Sirin sofort erscheinen würden.
»Ich hörte, daß du in der Nacht von Ballgels Tod nicht hier warst«, sprach Fidelma ihn an.
Der Tanist nickte und setzte sich wieder. »Ich hatte etwas an der Grenze unseres Gebietes am Fluß Comar zu erledigen. Es ging um den Diebstahl eines Rindes, also bin ich hingeritten, um die Sache zu klären. Am nächsten Tag kehrte ich zurück, vormittags, kurz bevor Becc nach Cashel aufbrach.«
»Der Comar ist ein kleiner Fluß westlich unseres Gebietes«, erklärte Becc. »Er bildet dort die Grenze.«
»Hat dich jemand begleitet?« fragte Fidelma.
»Ich war allein unterwegs«, antwortete Accobran.
Sie wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Adag, der Verwalter, trat ein. »Hast du nach mir geschickt, Lord?«
»Und nach Sirin, dem Koch«, fügte Fidelma hinzu.
Adag blickte zu Fidelma hinüber, dann sagte er zu Becc:
»Sirin wartet draußen.«
»So hol ihn herein«, befahl ihm Fidelma streng.
Der Verwalter schaute wieder Becc an, der ihm zunickte. Sirin war fast doppelt so breit wie Adag, hatte ein rundes Gesicht, eine rundliche Figur und lichtes Haar. Im ganzen wirkte er sehr traurig. Zuerst meinte Fidelma, sein trauriges, freudloses Auftreten entspringe dem Kummer um den Tod seiner Nichte, doch sie merkte bald, daß die melancholische Miene einfach zu ihm gehörte.
Der korpulente Mann schlurfte auf Becc zu, während Adag sich im Hintergrund hielt.
»Sirin, das ist Fidelma von Cashel. Sie ist eine dalaigh und wird die Mordfälle untersuchen. Sie möchte dir ein paar Fragen stellen, und du mußt nach bestem Wissen darauf antworten.« »Das werde ich, mein Lord«, erwiderte der Mann mit volltönender Stimme, die seiner Leibesfülle entsprach. Er schaute Fidelma fragend an.
»Sirin, zuerst möchte ich dir sagen, wie leid mir das Unglück tut, das deine Familie heimgesucht hat.«
Sirin neigte den Kopf ein wenig, schwieg aber.
»Ich brauche deine Hilfe. Erzähl mir etwas über deine Nichte und ihre Familie.«
Sirin breitete die Hände auf eine Art aus, die beinahe tragikomisch wirkte.
»Sie war so jung, erst siebzehn Jahre alt. Ihre Eltern starben vor zwei Jahren an Gelbfieber. Diese furchtbare Seuche hat beinah unsere ganze Familie dahingerafft. Nur meine Schwester, die arme Ballgel und ich überlebten. Und nun, nun gibt es Ballgel nicht mehr.«
»Wie ich hörte, wohnte sie bei ihrer Tante?«
»Bei meiner Schwester Berrach ... Ja. Seit zwei Jahren hat sie mir hier in der Küche geholfen.«
»Und sie war weder verheiratet noch verlobt? Hatte sie einen Freund?«
Sirin schüttelte den Kopf. »Sie sagte immer, der Richtige müsse noch kommen. Es stimmt, daß viele Burschen gern ihre Gesellschaft suchten. Aber sie ging nicht weiter darauf ein.«
»Um welche jungen Männer handelte es sich denn?«
Sirin lächelte traurig. »Sie war hübsch. Ich könnte fast alle Burschen von Rath Raithlen aufzählen. Es gab niemand speziellen.« Auf einmal verfinsterte sich sein Blick. Fidelma bemerkte es.
»Was ist dir gerade eingefallen?«
Sirin zuckte mit den Schultern. »Ach, nur eine kleine Geschichte. Gobnuid, einer der Schmiede hier in der Festung - ach, es war nichts.«
Fidelma beugte sich zu ihm vor. »Laß mich das beurteilen.«
»Nun, es war bei einem Fest vor einem Monat.« Er blickte zu Becc. »Der Feiertag des heiligen Finnbarr, der unsere kleine Abtei gegründet hatte«, erklärte er bereitwillig.
»Und was geschah?«
»Eigentlich nichts Wichtiges. Gobnuid wollte mit Ballgel tanzen, sie lehnte ab, daraufhin wirkte er gekränkt. Ballgel war mit ihren anderen Freundinnen zusammen, und offen gesagt, Gobnuid ist so alt, er hätte ihr Vater sein können. Ich fürchte, daß sich die jungen Burschen über ihn lustig gemacht haben, also ließ er ein paar zornige Worte fallen und verließ das Fest. Das ist alles.«
»Ich verstehe. Um auf die Mordnacht zurückzukommen: Ballgel hat die Festung gegen Mitternacht oder kurz darauf verlassen, stimmt das?«
»Ja.«
»Wann hat man die Leiche gefunden?«
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